Heinz Bildstein

Präsident des Landesgerichts Feldkirch

Recht und Gerechtigkeit

Mai 2015

Zwei junge Burschen, der eine drei Tage vor seinem 14. Geburtstag, der andere eine Woche älter, berauben und verletzen dabei eine ältere Dame. Der eine wird wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, der andere kommt wegen Strafunmündigkeit ungeschoren davon. Empfinden wir das als gerecht? Der von einem Mädchen der Vergewaltigung bezichtigte Mann wird vom Gericht freigesprochen. Glaubt das – tatsächlich vergewaltigte – Mädchen noch an die Gerechtigkeit?

In beiden Fällen hat die Justiz jedenfalls gesetzmäßig gehandelt: Ein noch nicht 14-Jähriger darf nicht bestraft werden, und das Gericht hat – wenn es von der Schuld des Angeklagten nicht überzeugt ist – diesen im Zweifel freizusprechen.

Unserem Gerechtigkeitssinn („Gleichheit vor dem Gesetz“ bzw. „der Täter soll bestraft werden“) widersprechen wohl beide geschilderten Fälle. Gerechtigkeit bezeichnet einen idealen Zustand des sozialen Miteinanders; sie wird als Grundnorm des menschlichen Zusammenlebens betrachtet.

Demgegenüber ist das Recht die Summe der gesetzlichen Normen, das heißt die von den Parlamentariern beschlossenen Gesetze, die natürlich der Gerechtigkeit (dem Naturrecht) so nahe wie möglich kommen sollten, wobei die Gerechtigkeit wiederum einem ständigen gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist.

Die Gerichte haben ausschließlich die gesetzlichen Vorschriften und Normen anzuwenden und ihren Entscheidungen zugrunde zu legen, wobei das Ziel jedoch stets sein sollte, gerecht zu sein – auch wenn eine der Parteien (der Unterlegene oder Verurteilte) oftmals das Urteil als ungerechnet betrachten wird. Recht und Gerechtigkeit sind daher nicht gleichbedeutend – recht haben bedeutet noch nicht Recht bekommen.