Christian Ortner

*1971 in Lustenau. Von 2002 bis 2012 war der promovierte Jurist Chef­redakteur der Vorarlberger Nachrichten. 2013 bis 2019 bei der NZZ Mediengruppe. Seit 2019 bei CH Media, einem Jointventure von NZZ Regionalmedien und AZ Medien; Chefredakteur von sechs regionalen Newsportalen.

„Heascht scho ir VN gläsö?“

April 2021

Wenn „das Internet“ und nicht mehr seriöse Medien die Nachrichtenquelle sind, wird Medienbildung für unsere Jugend immer wichtiger.

Der 21. September 1964. Zwischen 20.000 und 30.000 Menschen hatten sich auf den Weg nach Fußach gemacht. Nicht alle in friedlicher Absicht, manche durchaus gewaltbereit, obwohl es auf den ersten Blick um etwas Triviales, nämlich eine Schiffstaufe, ging. Vor allem für die „Vorarlberger Nachrichten“ ging es um mehr, um ein starkes, unmissverständliches Zeichen gegen die ungeliebte Wiener Zentrale. Die Menschen „Alt und Jung“ wurden aufgerufen, „den Protest durch eine möglichst starke Beteiligung laut und deutlich kundzugeben.“
Was hat dieser Ausflug in die Vorarlberger Zeitgeschichte in einer Betrachtung der Medien in Zeiten von Corona zu tun? Die Medienwelt war damals eine völlig andere, dennoch gibt es Parallelen. Würden die Medien heute nicht auch von einem „Mob“ sprechen, wenn sie über Fußach berichten? Motiviert oder gar angestachelt durch einen selektiven Medienkonsum. Bis ins Internetzeitalter hatten praktisch überall, nicht nur in Vorarlberg, Zeitungsmonopolisten die Meinungshoheit. Was in der Zeitung stand, war quasi Gesetz. Um einen herum – Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen – hatten alle nur eine Nachrichtenquelle, um sich ein Bild zu machen. Auch was man zu Fußach wissen musste, erklärte den Vorarlbergern die „VN“. „Heascht scho ir VN gläsö?“.
Nur auf den ersten Blick ist die Meinungsbildung heute völlig anders, gab es doch noch nie eine so große Medienvielfalt. Aber auch noch nie informierten sich trotz des üppigen Angebots Massen von Menschen so selektiv wie heute. Die meisten nehmen das nicht einmal wahr. Sie wissen nicht, dass die „Sozialen Medien“ längst ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten, aber auch ihre politische Gesinnung durchschauen und aufgrund der immer genauer werdenden Algorithmen zielgerichtet nur das an sie senden, was sie lesen wollen. Ein Beispiel: User, die in den vergangenen Jahren auf Facebook klar gemacht haben, dass sie Herbert Kickl für einen tollen Politiker halten, weil sie Beiträge von ihm oder über ihn geliked, kommentiert oder weitergeleitet und dasselbe auch noch bei Beiträgen von Impfskeptikern praktiziert haben, deren Facebook-Account wird seit Monaten selektiv mit Verschwörungstheoretiker-Müll überschwemmt. Und noch schlimmer: Die meisten von ihnen merken nicht einmal, dass diese „Wahrheiten“ in höchstem Maße gefiltert und nicht repräsentativ sind. Für die Adressaten zeigt sich ein Bild, dass praktisch alle Menschen um sie herum so denken. Sie sind keine Außenseiter mit ihren Ansichten, alle denken doch so. Und das macht mutig. Die „Wahrheiten“ werden von der Herde brav weiter geteilt. 
Heute heißt es, „i han im Internet gläsö“. „Das Internet“ ist die Quelle. Man ist erstaunt, wenn einem plötzlich gut gebildete Freunde Corona-Beiträge von AfD- oder Pegida-Seiten per WhatsApp zuschicken. Freunde, von denen man geglaubt hatte, dass sie den Dingen auf den Grund gehen, sich seriöser Nachrichtenquellen bedienen oder Informationen einem Faktencheck unterziehen. Dieser unkritische Umgang mit im World Wide Web Publiziertem ist gefährlich, wird zum Brandbeschleuniger, wenn Volksverhetzer wie Herbert Kickl unaufhörlich ihr Öl ins Feuer gießen. 
Und es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung an Dynamik zulegt. Immer weniger Menschen sind bereit, für ein seriöses Medium eine Abo-Gebühr zu bezahlen. Wenige Euros im Monat werden zum Luxus, den man sich nicht mehr leisten will. Der Kostendruck in den Verlagshäusern wird immer größer. Redaktionen werden weiter ausgedünnt, Wissenschaftsredakteure muss man inzwischen mit einer Lupe suchen. Kein Wunder, dass es auch arrivierte Medientitel schwer haben, in Zeiten einer Pandemie gegen „das Internet“ zu bestehen. 
Unsere Kinder wachsen mit dieser kritiklosen „I han im Internet gläsö“-Mentalität auf. Das ist besorgniserregend. Der Umgang mit Medien – egal welcher Art – gehört deutlich stärker in die Lehrpläne an unseren Schulen eingebaut als bisher. Längst ist zwar festgehalten, dass „Medienkompetenz eine Schlüsselkompetenz ist, die hilft, besser Entscheidungen zu treffen oder Inhalte kritisch bewerten zu können.“ Aber nach wie vor fristet die Medienbildung ein Schattendasein an unseren Schulen. Das muss sich ändern. Medienbildung muss zum Pflichtgegenstand werden. In Zeiten, in denen unsere Kinder täglich mehrere Stunden nahezu kritiklos mit Medien verbringen. Die heranwachsende Generation ist ein gefundenes Fressen für Hetzer, Spalter, für Feinde unserer Demokratie. Die Pandemie wird vergehen, Verschwörungstheoretiker werden aber weiterhin wie Pilze aus dem Boden schießen. Zu viele Erfolge waren und sind ihnen in dieser Krisenzeit vergönnt. Unsere Kinder müssen wieder lernen, in der unübersichtlich gewordenen Medienwelt seriöse von unseriöser Information zu unterscheiden. Nur so gehen sie Scharlatanen nicht auf den Leim. 
Einige Medien in Österreich – vor allem die Bundesländerzeitungen – haben gezeigt, dass auch in der gereizten Stimmung während der Corona Pandemie kompetente Berichterstattung möglich ist. Dazu gehören auch die „Vorarlberger Nachrichten“. Von Beginn an setzten die VN, die längst nicht mehr das Meinungsmonopol im Land haben, auf seriöse Berichterstattung. Unaufgeregt, ausgewogen, aber auch kritisch „arbeiteten“ die Redakteure die Themen ab. Nicht heute so und morgen wieder alles anders. Gestützt auf Expertisen von ausgewiesenen Fachleuten wie Armin Fiedler und angeführt von einer Redakteurin wie Marlies Mohr, die seit Jahrzehnten die medizinischen Themen als Fachjournalistin für die Landeszeitung betreut, konnten sich die Leser seriös eine Meinung bilden. Sicher ein Grund, warum heute die Testbereitschaft im Land so groß ist und die Vorarlberger ein Stück mehr Freiheit genießen dürfen als ihre Landsleute. „Heascht ir VN gläsö“ im besten Sinne.

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