Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Vorarlberg im europäischen Regionalvergleich

April 2017

Wussten Sie, dass man in Vorarlberg länger lebt als überall sonst in Österreich? Um ein bis zwei Jahre länger als in Wien und in anderen weiter östlichen Bundesländern: Lebenserwartung bei der Geburt 83,1 Jahre für beide Geschlechter im Durchschnitt, die Frauen ganze fünf Jahre länger als die Männer (kein Kommentar dazu, das wäre ein eigener Essay!). Aber bleiben wir beim Thema: Hängt das damit zusammen, dass Vorarlberg auch wirtschaftlich den Großteil Österreichs überflügelt? Könnte sein, aber sicher nur teilweise. Gute wirtschaftliche Verhältnisse können sich positiv auf die Lebenserwartung auswirken: durch bessere Gesundheitseinrichtungen, auch durch vermehrten Aufwand für gesunde Umwelt. Aber auch der umgekehrte Zusammenhang ist denkbar: Wirtschaftlicher Leistungsdruck kann krank machen. Vor allem ist eine höhere Lebenserwartung das Ergebnis gesünderer Lebensweise: Ernährung spielt eine große Rolle, Verzicht auf Rauchen und Alkoholkonsum, mehr Bewegung, wandern, bergsteigen, sicher auch Gesundheitsbewusstsein und Vorsorge.

Im europäischen Vergleich haben die Bewohner Vorarlbergs noch lange nicht die besten Karten für ein langes Leben. In den langlebigsten Gegenden werden die Bewohner um weitere ein bis zwei Jahre älter als bei uns. Wo sind die? Manchmal wird verkündet: in Kreta (wegen: Olivenöl, Gemüse, frischem Fisch) oder in Bulgarien (wegen: Schafmilchjoghurt). Falsch, keineswegs. Dort leben die Einwohner weit kürzer als bei uns, weil es ihnen nicht so gut geht. Wo also? Sie werden es nicht erraten: An der Spitze liegt die Region Madrid, knapp dahinter der Raum Paris! Tapas oder Escargots statt Schweinsbraten? Rotwein? Vielleicht, weil in diesen Großstädten ein höherer Anteil junger Menschen lebt, denen die Fortschritte der Medizin schon bei der Geburt zugutegekommen ist. Ich weiß die genaue Antwort nicht, das mögen Spezialisten untersuchen. Sicher aber ist nicht die Größe der Städte die überall zutreffende Antwort: Länger als in Vorarlberg lebt man auch im Tessin, in Umbrien, in Südtirol und im Trentino (immerhin um ein Jahr). Also doch Spaghetti mit Rotwein und Olivenöl?

Ähnlich wie der Vergleich der Lebenserwartung wirft der regionale Vergleich der Wirtschaftsleistung viele Fragen auf und kennt keine einfachen Antworten. Der am meisten gebrauchte Maßstab dafür ist die Höhe des Brutto-Regionalprodukts (BRP) je Einwohner. Da stellt sich zuerst eine Vorfrage: nationale Währung umgerechnet zum Wechselkurs oder mit der Kaufkraft, also wieviel man mit 100 Währungseinheiten kaufen kann? Geht es um den Lebensstandard der Bevölkerung, dann eher Kaufkraftparität; geht es um internationale Wettbewerbsfähigkeit, dann eher Wechselkurs. Im Euro-Raum gibt es beim Vergleich kein Wechselkursproblem, wohl aber im Vergleich mit der Schweiz oder mit Großbritannien.

Die regionalen Wirtschaftsstatistiken werden laufend ausgebaut und verfeinert. Die OECD in Paris und das Eurostat, das Europäische Statistik-Amt – nein, nicht in Brüssel, sondern in Luxemburg –, begnügen sich nicht mehr mit Daten über die nationalen Gesamtstaaten, sondern sie erheben auch nach kleineren räumlichen Einheiten. Die Ebene zweiten Grades (Großregionen, NUTS-2 in der EU-Statistik) betrifft in Österreich die Bundesländer. Vorarlberg findet man in den internationalen Statistiken unter AT34, Bayern zum Beispiel unter DE2. Nun sind aber Bayern und einige andere deutsche Bundesländer um ein Mehrfaches größer als österreichische, ja sogar größer als ganz Österreich. Daher noch eine kleinere, räumlich homogenere Ebene, nämlich (Kleinregionen, NUTS-3); für Vorarlberg AT341 Bludenz-Bregenzerwald und AT 342 Rheintal-Bodenseegebiet (das durchschneidet den Bezirk Bregenz).

Der regionale Vergleich für Europa zeigt deutlich, dass Vorarlberg offenbar von der Geografie begünstigt ist: Es liegt eingebettet in einer Zone überdurchschnittlicher Wirtschaftsleistung, die sich vom Niederrhein über Frankfurt, Süddeutschland und die Schweiz nach Oberitalien erstreckt. Das schmälert die Leistung der Vorarlberger Wirtschaft nicht, auch nicht die Verdienste der Landespolitik. Das kann eine gesunde und unternehmerische Wirtschaft als Startvorteil nutzen, oder sie wird von der tüchtigen Umgebung an die Wand gedrückt. Vorarlberg nicht: Seine Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung erreicht unter den annähernd 200 europäischen Regionen (auf Ebene 2) den 26. Platz (2015). Aber darunter befinden sich auch Millionenstädte und Hauptstädte. Diese erzielen generell eine höhere durchschnittliche Wertschöpfung, weil dort Unternehmenszentralen, Ministerien, Diplomatie, Universitäten und Forschung konzentriert sind. Das gilt auch für Wien. Ein etwas höheres durchschnittliches Regionalprodukt je Einwohner als in Vorarlberg erzielt in Österreich außer Wien nur das Land Salzburg. Klammert man alle Millionenstädte und großen Hauptstädte aus dem europäischen Vergleich aus, kommt Vorarlberg unter rund 170 Regionen auf den 12. Platz. Einige Schweizer Regionen sind da nicht erfasst, weil die Umrechnung zu Kaufkraftparitäten noch nicht mit der europäischen Statistik akkordiert ist.

Die wirtschaftliche Stärke Vorarlbergs ist keine Überraschung. Sie hat sich in den vergangenen Jahren noch stärker ausgeprägt: Ebenso verglichen wie 2015 erreichte Vorarlberg 2008 erst den 19. Platz. Hervorragend schneidet Vorarlberg auch beim Kriterium niedrige Arbeitslosigkeit, besonders auch niedrige Jugendarbeitslosigkeit ab. In Vorarlberg herrscht in etlichen Berufen bereits drückender Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, nicht zuletzt durch Abwandern oder Pendeln in die Nachbarschaft, wo nominell höhere Brutto-Einkommen winken.

Wirtschaftliche Leistung setzt einige Qualitäten voraus: unternehmerische Einstellung, Risikobereitschaft, gute Ideen und höhere Ansprüche an sich selbst, gute Ausbildung, ein stimulierendes gesellschaftliches Klima, Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem. Das sind „weiche“ Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit. Ihre Quantifizierung ist problematisch. Aber immerhin bringt die moderne europäische Regionalstatistik einige Anhaltspunkte. Beispiele: Nur zehn Prozent der Bevölkerung in Vorarlberg haben noch nie einen Computer benutzt (2014). Zum Vergleich: Tirol 13 Prozent, Kärnten 17 Prozent, hingegen in den Niederlanden nur vier Prozent. (Die Computer-Abstinenten nehmen fast überall rasch ab). Oder: 81 Prozent (2014) der Haushalte in Vorarlberg besitzen einen Breitband-Zugang zum Internet, etwas mehr als im österreichischen Durchschnitt. Aber: in Bayern schon 87 Prozent.

Statistik ist entgegen verbreiteten Vorurteilen keine staubtrockene Angelegenheit. Man muss sich auf sie mit etwas fachlichem Verständnis einlassen. Dann bietet sie zwar selten endgültige Antworten. Aber stößt Politik Unternehmer und interessierte Bürger zum Denken an mit der spannenden Frage: Warum?

1) Die Vorarlberger Landesregierung veröffentlichte Ende März eine Studie über die Stellung Vorarlbergs im europäischen Regionalvergleich, der diese Daten entnommen sind.

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