Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Die Lust am Sehen

Juni 2016

„Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“ (Hans Magnus Enzensberger). In der „Theorie des Tourismus“ zieht der Schriftsteller Parallelen zwischen der industrialisierten Welt, deren Merkmale Normierung und Serienfertigung sind, und dem Tourismus, der eigentlich eine kurzfristige Befreiung aus dieser Welt in Aussicht stellt. Aber eben auch dort werden in vergleichbarer Weise Sehenswürdig­keiten normiert, die Welt mit Sternen klassifiziert.

Im Jahr 1837 wurde erstmals dieser normierte touristische Blick auf Vorarlberg geworfen und in einem Reiseführer publiziert. Der Autor beschrieb und bewertete darin die Attraktionen des Landes und praktizierte damit eine völlig neue Sichtweise. Es war typischerweise kein Einheimischer, sondern ein Engländer, der auf die wachsende Mobilität seiner Landsleute mit einer neuen Geschäftsidee reagierte. John Murray, der in dritter Generation einem Londoner Verlagshaus entstammte, veröffentlichte 1837 das Reisehandbuch „Handbook for Travellers in Southern Germany“ und begründete damit die später weltberühmten „Red Books“, die nicht mehr nur wie ihre Vorläufer die Reiseroute beschrieben, sondern mehr und mehr auch praktische Hinweise zu Hotels, Verkehrsmitteln und Restaurants enthielten.

Die Leser dieser ersten Reiseführer waren bürgerliche, anfänglich meist männliche Touristen, die nicht mehr nur zum Zweck der Ausbildung oder der Geschäfte wegen auf Reisen waren, sondern die der Motivation folgten, in einem begrenzten Zeitraum möglichst viele Sehenswürdigkeiten besichtigen zu wollen.

Im deutschsprachigen Raum verbreitete sich wenig später dann der „Baedeker“, eine ebenfalls in Rot gehaltene Reihe von Reiseführern, die zunächst sehr den „Red Books“ von Murray ähnelten. In den ersten Jahren war es Karl Baedeker selbst, der auf zahlreichen Reisen Europa durchquerte, immer Aufzeichnungen machend, mit dem Ziel, übersichtliche, systematische, kurzweilige und informative Handbücher zu schaffen. Der klassische „Baedeker“ bestand aus Informationen zur Landeskunde, reisepraktischen Hinweisen sowie der Beschreibung des Reiseziels.

Susanne Müller, eine Medienwissenschaftlerin aus Potsdam, kommt in einer kritischen Analyse zum Schluss, dass der Baedeker nicht nur ein neues Format der Reiseliteratur darstellte, sondern darüber hinaus die Welt der Reisenden revolutionär veränderte. Auf der einen Seite erleichterte das Handbuch das Reisen, da es den Touristen vor unberechtigten Trinkgeldforderungen und anderen Belästigungen bewahrte, um ihm stattdessen einen ungestörten Blick auf Städte und Landschaften zu ermöglichen, auf der anderen Seite mahnte schon 1873 ein Kritiker, dass man hoffnungslos der Gewalt des roten Buchs ausgeliefert sei und jeglicher Freiheit beraubt werde. Was nicht im „Baedeker“ angeführt sei, werde von den Touristen erst gar nicht mehr wahrgenommen. Der Geheimtipp im Reiseführer bedeutete jedenfalls damals – und das hat sich bis heute nicht geändert – das Ende der gepriesenen Exklusivität.

In der Landesbibliothek finden sich Hunderte Reise- und Wanderführer zu Vorarlberg aus bald zwei Jahrhunderten. Der älteste von John Murray (1837) konnte vor einigen Jahren antiquarisch erworben werden. Die dort beschriebene Reiseroute führt von Bregenz nach Innsbruck, wobei die Städte entlang der Route und besonders der Arlbergpass beschrieben werden.

„Stuben am Arlberg: poor village at the foot of the Arlberg, composed almost entirely of low inns, fit only for carters.“ Zur Qualifizierung Stubens als ärmliche Station für Fuhrleute kommen dann noch praktische Hinweise zur Überquerung des Arlbergs.

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