J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Ein Blitz-Blick auf die Artenvielfalt

Juni 2023

Manchmal, wenn vom Schwinden der Insektenwelt die Rede ist, lasse ich die Gedanken zurückschweifen in meine Kindheit. Wir Kinder hatten unendlich viel Zeit damals, und es gab unendlich viel zu entdecken. Wir lebten am Ortsrand. Und gleich neben unserem Garten erstreckte sich eine blumenreiche Wiese mit hochwüchsigen Apfelbäumen. Zweimal im Jahr wurde sie gemäht, danach gedüngt, aber dann war wieder Ruhe bis zur nächsten Mahd. Da gab es Margeriten, Kuckucks-Lichtnelken, Wiesen-Bocksbart, diverse Klee-Sorten… Nach Insekten mussten wir nicht lange suchen, die waren einfach da, sie gehörten dazu. Natürlich interessierten uns Kinder die großen Tagfalter und Hummeln mehr als das kleine Krabbelzeugs, das wir ohnehin nicht ansprechen konnten. Und dennoch staunten wir über seine Vielfalt. Diese Wiese gibt es längst nicht mehr. Wo wir als Kinder unsere ersten Erfahrungen mit der Schönheit und Faszination der Natur gesammelt hatten, stehen heute Häuser, dazwischen die grüne Wüste des vom Mähroboter totgemähten Rasens. Aber auch jenseits des heutigen Ortsrandes werden wir solch eine Wiese vergebens suchen. Dort finden wir Grasplantagen, und sollte sich in ihnen eine Blüte zeigen, so weiß der Landwirt: Es wird Zeit zu mähen. Aber selbst in etwas blumenreicheren Wiesen sind die Insekten dünn gestreut, auch dort müssen wir die tierischen Bewohner suchen.
Wenn meine Gedanken so zurückfliegen in meine Kindheit, so fehlt mir ein heute umso bedeutenderer Aspekt. Niemand hatte es damals für nötig erachtet, diese beinahe unüberschaubare Vielfalt zu dokumentieren. Weder über die Artenzahl, und schon gar nicht über die damalige Menge an Insekten liegen verlässliche Daten vor. Kindheitserinnerungen allein genügen nicht, um den Rückgang der Insektenwelt in Zahlen zu fassen. Aber solange sich die Biodiversitätskrise nicht in Zahlen ausdrücken lässt, ist sie für viele Entscheidungsträger schlichtweg nicht existent.
Freilich, damals fehlten uns die Mittel zur Dokumentation der Natur. Bestimmungsbücher zeigten immer nur den Idealtyp einer Art, doch die Variationsbreite im Aussehen ebendieser Art konnte nicht in nur einem Foto ausgedrückt werden. Die verbalen Beschreibungen blieben für uns vielfach unverständlich. Und die Vorstellung, für eine korrekte Bestimmung Tiere töten und präparieren zu müssen, schreckte uns vollends von einer intensiveren Beschäftigung mit den kleinen Krabblern ab. Manchmal wünsche ich, ich könnte die damalige Wiese zurückholen, könnte sie mit den heute verfügbaren Hilfsmitteln in Augenschein nehmen und ein Verzeichnis ihrer Bewohner anlegen. Ja, heute ist dies kein Problem mehr. Und dazu braucht es kein Biologie-Studium, ja nicht einmal eine detaillierte Artenkenntnis ist dazu vonnöten. Für viele Tiergruppen finden sich im Internet Bestimmungshilfen, welche die gesamte Variabilität einer Tierart überschaubar darstellen. Es genügt, Bilder zu vergleichen. Wer es schafft, all die unterschiedlichen Fotos derselben Tierart auf ein gemeinsames Grundmuster zu reduzieren, hat den ersten Schritt zur Identifikation eines Tieres erfolgreich vollzogen. Aber selbst wenn Sie nicht über die nötige Beobachtungsgabe verfügen, wenn ihnen Bildsuche und Bildvergleich zu mühsam sind, können Sie dennoch ein fotografiertes Tier bestimmen lassen – ja, lassen, denn Künstliche Intelligenz erledigt diese Arbeit für Sie! Sie müssen auch keine Sammlung tierischer Leichen, weder aufgespießt noch alkoholisiert, anlegen, um die Insekten dauerhaft zu dokumentieren. Selbst Fotos der meisten Mobiltelefone sind gut genug, um die wichtigsten Bestimmungsmerkmale erkennen zu lassen. Gute Fotos sind in den meisten Fällen einem musealen Beleg durchaus ebenbürtig. Und Sie müssen auch über keine Datenbank-Kenntnisse verfügen, um ihre Tier- und Pflanzen-Beobachtungen zu verwalten. Beobachtungs-Plattformen im Internet erledigen diese Arbeit für Sie.
Eine dieser Plattformen ist Observation.org. Die inatura, das Naturmuseum Vorarlbergs, ist seit heuer offizieller Partner dieser Plattform. Und die inatura in ihrer heutigen Form feiert heuer ihren 20. Geburtstag. Was läge also näher, als diese beiden Ereignisse zu einer ganz speziellen Aktion zu verschmelzen, zu einem BioBlitz? Vom 8. bis 18. Juni wollen wir der Welt zeigen, dass Dornbirn, der Heimatort des Museums, zwar keine heile, aber dennoch eine erstaunlich vielfältige Natur zu bieten hat. Und dass Dornbirn – gleich wie jede andere Gemeinde des Landes – immer noch Überraschungen für Naturliebhaber bereithält. Während diesem Zeitraum wollen wir möglichst viele Tier- und Pflanzenarten im Bild festhalten und bei Observation.org eintragen. Aber nicht als abgehobene Aktion für die Wissenschaft – nein die gesamte Bevölkerung ist eingeladen, mit offenem Auge durch unsere Landschaft zu streifen und alles, was lebt und gedeiht zu fotografieren (ausgenommen Haus- und Nutztiere sowie Gartenpflanzen) – Details dazu finden Interessierte auf der Homepage der inatura. Gleich ob Sie ihre Beobachtung mittels App ObsIdentify beziehungsweise iObs direkt vom Handy übertragen oder daheim in Ruhe über Ihren Computer hochladen: Jede noch so unbedeutend erscheinende Beobachtung trägt dazu bei, dass uns ein zukünftiges „Hätte ich doch damals …“ erspart bleibt. Was als Spiel und Wettbewerb beginnt, kann für Sie zu einem neuen, einem faszinierenden Hobby werden: Die Lebewesen in Ihrem persönlichen Umfeld zu erforschen und sich an ihrer Schönheit zu erfreuen!

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