Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Der riskante Wunsch nach Sicherheit

April 2017

Die Frage, was Sicherheit ist, wird je nachdem, wem die Frage gestellt wird, anders beantwortet. Ein Sicherheitsexperte des Innenministeriums wird sie anders beantworten als ein Versicherungsvertreter. Ein mit den letzten Dingen beschäftigter Theologe wird eine andere Antwort geben als ein auf die zentralen Werte unserer Gesellschaft spezialisierter Philosoph, und der wieder eine völlig andere als ein Anlageberater oder Nationalökonom. Ist Sicherheit ein Bedürfnis, das jeder mehr oder weniger ausgeprägt hat? Ist Sicherheit ein Grundrecht, auf das alle Bürger Anspruch haben? Stellt sie einen Wert dar, der sich – wie jeder andere Wert – wiederum mit anderen vergleichen lassen müsste? Gibt es einen Markt, auf dem Sicherheit gehandelt wird?

Allein schon die Tatsache, dass das Wort Sicherheit unterschiedlichste Verbindungen einzugehen vermag, zeigt, wie komplex und verwirrend das ist, was man mit Sicherheit bezeichnet. Rechtssicherheit ist wohl jener über Jahrhunderte erreichte Zustand, der am meisten zum Wohlstand und zum Wohlbefinden in Europa beigetragen hat. Einst hat – so glaubten wenigstens die meisten – Gott die Sicherheit gewährleistet, verantwortlich für die Umsetzung waren seine Stellvertreter auf Erden. Die waren nicht immer perfekt. Dementsprechend ersetzte das Gottvertrauen lange Zeit jede Versicherung. Seitdem das Bewusstsein allgemein wurde, dass Gott entweder tot oder zumindest entmachtet worden war, mussten Vereinbarungen unter Menschen für das Verlorene einspringen.

Für jeden Bereich des Lebens wurden im 19. und 20. Jahrhundert Versicherungen konzipiert: Feuerversicherungen, Eisenbahnunfallversicherungen, Kraftfahrzeugversicherungen, Kranken-, Pensions- und Sozialversicherungen, ja sogar Lebensversicherungen wurden erfunden und damit verbunden war ein vielfältiges Bewertungssystem für die Schäden und Risiken. Zielbewusst wandte man sich den Bedrohungen zu, allem voran der Natur. Sie wurde gebändigt: Flüsse wurden reguliert, um Überschwemmungen vorzubeugen, an Meeresküsten wurden Deichbauten angelegt, Straßen und Eisenbahntrassen durch Lawinenschutzbauten und Tunnels gesichert. Aber auch die Landwirtschaft wurde zum Ziel: Die Ernährung von Städten, Ländern und Staaten musste sichergestellt werden. Erreicht wurde die grundlegende Behebung des Nahrungsmangels durch neue Regierungstechniken, bestehend aus einer diffizilen Kombination von Reglementierung und Gewährung von Marktfreiheit hergestellt. Technische Entwicklungen, etwa die Erfindung des Autos, machten die neue Regelung des Verkehrs notwendig: Alle Verkehrsteilnehmer wurden domestiziert, diszipliniert und langsamer gemacht, um das Sterben auf den Straßen einzudämmen. Die moderne Medizin versuchte, Krankheiten Herr zu werden, Impfkampagnen wurden teils gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt. Insbesondere war die Entwicklung der Hygiene überaus erfolgreich und verlängerte zusammen mit der verbesserten Ernährung so viele Menschenleben, dass man von einem „demografischen Übergang“ spricht: Die Sterberaten fielen dauerhaft auf ein niedriges Niveau, etwas später fielen – bedingt durch neue Lebensformen – auch die Geburtenraten in vergleichbarem Maße.

Aber auch der Umgang der Menschen untereinander wurde dem Primat der Sicherheit unterworfen: Schon im Mittelalter wurden – wie bei Valentin Groebner (Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle, 2004) nachzulesen – immer raffiniertere Systeme der Sozialkontrolle entwickelt, etwa um einzelne Verbrecher oder ganze Räuberbanden ausfindig zu machen: Steckbriefe, Ausweise und andere Methoden der Identifizierung von Personen wurden eingeführt, Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Fingerabdruckuntersuchungen erfunden, 100 Jahre später die DNA-Tests, in den letzten Jahren werden sukzessive biometrische Verfahren entwickelt und eingesetzt. Im Rahmen eines gigantischen Zivilisierungsprozesses wurde die Bevölkerung spätestens seit dem 18. Jahrhundert sukzessive entwaffnet, die Waffengewalt verstaatlicht. Es entstand eine der staatlichen Kriegsgewalt, eine dem Militär entgegengesetzte Sphäre des „Zivilen“. Das staatliche Gewaltmonopol wurde selbst reglementiert, der Bürger wurde zunehmend durch Grundrechte vor lokalen Machthabern, aber auch vor staatlichen Übergriffen, geschützt. Ein weites Feld eröffnete sich im Rahmen der Industrialisierung: Der Staat garantierte zunehmend die Sicherheit am Arbeitsplatz, kontrollierte durch Gewerbeinspektorate die Sicherheitsbestimmungen in den Betrieben und übernahm auch Organisation und Kontrolle über Unfall-, Kranken- und auch die Pensionsversicherungsanstalten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert etablierte sich ein System der ausdifferenzierten öffentlichen und sozialen Sicherheit, das sowohl den Einzelnen als auch besondere Gruppen (etwa Berufsgruppen) umfasste. Die Industriegesellschaft wurde zum Vorsorgestaat (vgl. Francois Ewald, Der Vorsorgestaat, 1993).

In einer letzten Steigerungsphase wurde und wird der Versuch unternommen, den einzelnen Menschen vor sich selbst zu schützen. Den Anfang machte eine Lebensreformbewegung, ergänzt durch den Kampf gegen den Alkohol (in den USA durch die Prohibition), eine komplexe Diätetik und die Entwicklung des Sports zum Breiten- und Massensport im Rahmen des Kampfes um die Volksgesundheit. Flankiert wurden diese Schutzmaßnahmen durch Eugenik und Sozialhygiene. Die Instrumentalisierung durch totalitäre Systeme konnten diese Bemühungen nicht grundsätzlich desavouieren, sie bleiben aktuell, wenn man an die Durchsetzung von Selbstzerstörungsverboten, etwa das Rauchverbot, denkt. Alle diese Maßnahmen sollen letztlich die Sicherheit gewährleisten. Aber wovor? Dem früheren Tod. Allerdings: Der Kampf gegen den Alkoholismus richtet sich natürlich auch gegen die Zerstörung von Familien und gegen die Risiken, etwa die Folgewirkungen und -kosten, die durch alkoholbedingte Unfälle und Straftaten entstehen.

Der zum gesellschaftlichen Überwert erhobenen Sicherheit stehen jedoch stets – gleichgültig, auf welchem Niveau und in welchem Bereich – spezifische Risiken, Bedrohungen und Gefahren gegenüber: Man denke nur an die Sicherstellung von Energiereserven – weder die Produktion von elektrischem Strom noch jene von Öl und Gas ist ohne Risiko. Viele, keineswegs aber alle, Risiken oder Gefährdungslagen sind nicht mehr – wie früher Bedrohungen durch Nahrungsmittelknappheit – schichtspezifisch verteilt. Die Gefährdung durch einen atomaren Unfall oder durch Smog trifft Arme und Reiche, Gebildete wie Ungebildete gleichermaßen. Folgen des Klimawandels belasten alle Staaten, spätestens durch die ausgelösten Wanderungsbewegungen (vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986).
Hinter dem allumfassenden Wunsch nach Sicherheit (im lateinischen Wort für Sicherheit „securitas“ steckt „sine cura“ – ohne Sorge beziehungsweise Angst) verbirgt sich ein unheimliches Wesen: Die Angst, vor der uns all der angehäufte Reichtum um uns herum nicht schützen kann, und die uns überall hin verfolgt, sogar in die Therapiestunde. Wer weiß, ob unsere Vorfahren mit all ihren Schutzheiligen und Nothelfern nicht letztendlich besser gefahren sind als wir mit modernen Polizeimethoden, Security-Firmen und Risikomanagement.

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