Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„In Österreich gelten Sie schnell als staatszersetzend“

April 2018

Franz Schellhorn (48), Leiter der Denkfabrik „Agenda Austria“, sagt im Interview: „Man ist in unserem Land nur so lange als Meinungsspender erwünscht, solange die Message passt.“ Und was in Österreich offenbar so gar nicht erwünscht ist, sind Rufe nach Entlastung, nach marktwirtschaftlichen Lösungen – und der Verweis auf andere Länder.

Sie haben jüngst im „Profil“ geschrieben: „Hierzulande von Neoliberalismus zu sprechen, ist lachhaft.“ Warum, Herr Schellhorn, soll denn das lachhaft sein?

Weil wir in einem Land leben, in dem die Staatsausgabenquote bei 52 Prozent des jährlich Erwirtschafteten liegt und die Steuer- und Abgabenquote bei 42 Prozent – und auch das Bildungssystem, das Gesundheitssystem und das Pensionssystem staatlich sind. In so einem Land von Neoliberalismus zu sprechen ist absurd: Wir sind eine staatswirtschaftlich organisierte Marktwirtschaft, in der der Staat in allen wichtigen Lebensbereichen dominiert. Österreich ist das Gegenteil dessen, was unter Neoliberalismus verstanden wird.

Was ist denn Neoliberalismus im historisch und fachlich korrekten Verständnis?

Der Begriff war Ende der 1930er-Jahre von dem US-Journalisten Walter Lippmann definiert worden, nach einer Tagung in Paris, als Liberale versucht hatten, aus der Weltwirtschaftskrise eine zentrale Lehre zu ziehen, um dem ungezügelten Laissez-Faire-Liberalismus Grenzen zu setzen. Lippmann und seine Mitstreiter traten damals für sehr starke Regulierungen ein, vor allem im Finanzbereich. Das heißt, die Urväter des Neoliberalismus waren für Regulierung, nicht für Deregulierung.

Ergo versteht, wer den Begriff Neoliberalismus heute bemüht, in der Regel das Falsche darunter?

Man versteht bewusst das Falsche darunter. Neoliberalismus ist im öffentlichen Diskurs zu einem Kampfbegriff geworden, der für Privatisierung, Deregulierung, Steuersenkung steht; für all das, was vermeintlich schlecht ist. Verstanden wird darunter der schlechte Liberalismus, der sozial kalte Liberalismus, der den Staat zu zerstören versucht und der dem Individuum grenzenlose Freiheit bieten und quasi den Ellbogencheck salonfähig machen will. Und wenn man im öffentlichen Diskurs nun versucht, das geradezurücken und die korrekten historischen Wurzeln zu bemühen, dann werden sie gnadenlos scheitern. Wenn sie etwas vorschlagen, was dem Staat auch nur einen Cent weniger brächte, dann ist das – erraten – sofort: neoliberal. Dann muss man sich permanent rechtfertigen.

Sie haben das mit der „Agenda Austria“ ja bereits mehrfach ausgetestet.

Stimmt. In anderen Ländern ist das übrigens genau umgekehrt: Da müssen sie sich rechtfertigen, wenn sie mehr staatlichen Einfluss, mehr staatliche Leistungen und höhere Steuern wollen. In Österreich ist es dagegen so, dass sie sich rechtfertigen müssen, wenn sie dafür eintreten, dass die Bürger so wenig Steuern wie möglich zahlen. Da gelten sie als staatszersetzendes Subjekt. Das passiert bei uns mit einem Wimpernschlag! Es ist bereits ein Sakrileg, wenn man nur hinterfragt, ob die Gegenleistung des Staates für die eingenommenen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge auch gut genug ist. Da sind sie dann schon schwer im Verdacht, ein „Neoliberaler“ zu sein, der den Staat zersetzen will. Dabei ist die „Agenda Austria“ weder dem Liberalismus verpflichtet, noch dem Sozialismus oder dem Konservativismus. Wir sind keiner Denkschule verpflichtet, wir komplettieren das Bild …

Inwiefern denn?

In Österreich wird sehr viel an den Staat delegiert. Am Ende bleiben die nachkommenden Generationen mit immer höheren Steuern, Staatsausgaben und Staatsschulden zurück. Die marktwirtschaftliche Lösung kommt zu kurz. Und wir wollen diese marktwirtschaftliche Sichtweise einbringen – ohne aber den Staat zersetzen oder auch nur schwächen zu wollen. Wir versuchen vielmehr, den Menschen in diesem Land eine möglichst gute Entscheidungsgrundlage zu bieten, indem wir beispielsweise untersuchen und publizieren, wie andere Länder gleichgelagerte Probleme lösen. Denn im Gegensatz zu Österreich ruft man in anderen Ländern bei neuen Problemen ja nicht sofort nach höheren Steuern, höheren Schulden und höheren Staatsausgaben …

Sie verweisen da des Öfteren auf Schweden. Das skandinavische Land hat – beispielsweise – mit derselben Steuer- und Abgabenbelastung wie Österreich eine halb so hohe Staatsverschuldung. Warum werden solche Tatsachen hierzulande nicht in notwendiger Konsequenz berücksichtigt?

Weil das unbequem wäre. Die Sozialdemokratie, aber auch die anderen Parteien, hören es nicht so gerne, dass in bestimmten Ländern wie etwa in Schweden einiges an Reformen weitergebracht worden ist. Warum? Weil die ganz großen Reformen der vergangenen Jahrzehnte dort allesamt von sozialdemokratisch geführten Regierungen durchgeführt wurden! Und daran wird man in Österreich halt nicht so gerne erinnert. Österreichs Sozialdemokraten müssten ihren schwedischen oder dänischen Parteigenossen vorwerfen, sie seien – da haben wir es wieder – neoliberal. Aber genau das haben die Sozialdemokraten in Schweden gemacht: Sie haben Reformen durchgezogen, über die sich selbst eine Margaret Thatcher nicht drübergetraut hätte. Sie haben das öffentliche Pensionssystem mit einem höheren Pensionsalter gesichert, den Staatshaushalt in Ordnung gebracht und zukunftsfähig gemacht. In Schweden ist quer über alle Parteigrenzen Folgendes unbestritten: In guten Zeiten erwirtschaftet der Staat Überschüsse. Und in schlechten Zeiten kann der Staat Defizite machen. Diese Politik in guten Zeiten sichert den notwendigen Spielraum in schlechten Zeiten.

Und in Österreich?

In Österreich? Wird das erst gar nicht diskutiert! Wir hatten den letzten echten Budgetüberschuss 1954. Vor 64 Jahren! Seither machen wir Schulden. Ununterbrochen.

Dominiert in Österreich eine Minderheit die öffentliche Meinung?

Teilweise. In den sozialen Medien ganz sicher. Wenn Sie da etwas sagen, was der Mehrheitsmeinung widerspricht, wird das hart sanktioniert. Man sucht nicht den Diskurs, man sucht die Bestätigung der eigenen politischen Meinung. Wir sind nicht mehr in der Lage, einem anderen zuzuhören und unterschiedliche Standpunkte auszudiskutieren. Und das ist das Grundproblem, das wir derzeit haben: Eine Demokratie lebt vom Austausch der Argumente. Dieser Austausch findet in Österreich aber so gut wie gar nicht mehr statt. Man ist in unserem Land nur so lange als Meinungsspender erwünscht, solange die Message passt.
 
Vielen Dank für das Gespräch!

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