Klaus Zierer

 *1976 in Vilsbiburg, ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Associate Research Fellow an der University of Oxford. Zuvor war er Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaften an der Universität Oldenburg. Nach dem Studium des Grundschullehramts war er zunächst mehrere Jahre als Grundschullehrer tätig. Zu erwähnen sind die Arbeiten im Anschluss an John Hattie, die er mittlerweile in eigenständigen Projekten und Publikationen fortführt. Zierer ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem von ihm erschienen: „Lernen 4.0.

Die gute Schule

Dezember 2022
Brauchen wir eine Erneuerung des Sokratischen Eides?
 
Ein Mensch verbringt circa 15.000 Stunden seines Lebens in der Schule und wird durchschnittlich von 50 Lehrpersonen unterrichtet. Doch nur eine Handvoll bleibt ein Leben lang positiv in Erinnerung, obschon alle dieselben Lernenden, dieselben Eltern, dieselben Klassenräume und dergleichen hatten. Was ist das Geheimnis ihres Erfolges? Neuere Forschungen zeigen: Erfolgreiches Lehrerhandeln ist eine Frage der Haltung, deren Ideal als Berufseid formuliert werden kann.
Warum aber erneut über einen Berufseid nachdenken, der bereits vor drei Jahrzehnten formuliert worden ist? Steht es so schlecht um das Wohl der Kinder, dass abermals von Lehrpersonen eine öffentliche Selbstverpflichtung verlangt werden kann und muss? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist die aktuelle Lage wichtig: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben weltweit das Wohl von Kindern beeinträchtigt. Ob kognitive Lernleistung, psychosoziale Entwicklung oder körperliche Verfassung – angesichts empirischer Daten ist anzuerkennen, dass das Bildungsniveau sinkt. In Anbetracht des Zusammenhanges zwischen Bildungsniveau und Wirtschaftskraft einerseits und zwischen Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit andererseits ist dies bedenklich. Denn es gilt: Sinkt das eine, so auch das andere. Besonders dramatisch ist, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus stärker betroffen sind. Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu. Diese Zusammenhänge sind derzeit in allen westlichen Demokratien zu beobachten, so auch in Österreich.
Allein diese Entwicklungen würden es rechtfertigen, eine Erneuerung des Sokratischen Eides anzustoßen, um Kindern eine Stimme zu geben. Gerade in der Corona-Pandemie ist über so vieles gesprochen worden, aber verhältnismäßig wenig über das Wohl der Kinder. 
Eine Digitalisierung der Bildung zeigt sich im Licht empirischer Forschungen dabei weniger als Heilsbringer denn als Problem. So bestimmend Digitalisierung für die heutige Lebenswelt ist, es ist nicht alles Gold was glänzt: Handy-Sucht und Cyber-Mobbing sind nur zwei Phänomene, die eine pädagogische Selbstvergewisserung und damit eine Erneuerung des Sokratischen Eides notwendig machen. Denn eine Digitalisierung um der Digitalisierung willen und damit ohne einen pädagogischen Impetus läuft an Schulen, aber auch gesamtgesellschaftlich gesehen Gefahr, inhuman zu werden.
Dass diese Digitalisierung noch dazu viel Geld kostet und als Kehrseite der Medaille ein Nachhaltigkeitsproblem erzeugt, mag noch hinnehmbar sein. Dass aber immer mehr Kinder Probleme beim Lernen und auch im Leben haben, Erziehungsschwierigkeiten in der Schule und in den Familien zunehmen, muss aufhorchen lassen und erfordert eine öffentliche Selbstverpflichtung, was Schule leisten kann und muss.
Und schließlich haben die letzten dreißig Jahre auch die Erziehungswissenschaft verändert: so ist heute die empirische Bildungsforschung maßgebend. Allein deshalb ist eine Erneuerung wichtig. Dabei ist zu betonen, dass weder das Eine, noch das Andere besser oder schlechter ist: Bildung erfordert sowohl theoretische als auch empirische Zugänge. Hierfür eignet sich ein Humanismus als Leitidee, der sich in der Realität bewähren muss.
Gerade für einen Berufseid ist dieser Anspruch zu erfüllen: So mag er auf den ersten Blick als theoretisches Konstrukt erscheinen, das aber in der empirischen Bildungsforschung eine Bestätigung erfährt. Bildungswirksames Lehrerhandeln ist nicht nur eine Frage der Kompetenz, sondern auch eine Frage der Haltung. Tauschen sich Kolleginnen und Kollegen aus und entwickeln sie gemeinsam eine Vision einer guten Schule, so profitieren Lernende am meisten.
Angesichts dieser Gemengelage ist es an der Zeit, eine Erneuerung des Sokratischen Eides vorzulegen. Er versteht sich als theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte öffentliche Selbstverpflichtung von Lehrpersonen – gegenüber den Kindern, den Eltern, den Kolleginnen und Kollegen, der Bildungsöffentlichkeit, der Gesellschaft und sich selbst. Um zu wirken, muss er nicht nur bei der Übergabe der Einstellungsurkunde verlesen werden, sondern zum roten Faden der Lehrerbildung werden. Sokrates als Gewährsmann zu nehmen, ist damals wie heute sinnvoll. So lautet die Erneuerung des Sokratischen Eides angesichts epochaltypischer Herausforderungen, die nur durch Bildung zum Wohl der Menschheit gemeistert werden können:
 
„Wer die Welt bewegen will, sollte erst sich selbst bewegen.“ Sokrates
Als Lehrperson verpflichte ich mich, all mein Fühlen, Denken und Handeln im Beruf auf das Wohl der mir anvertrauten Kinder hin auszurichten.
 
Den Kindern gegenüber verpflichte ich mich,
jedes Kind seinen Möglichkeiten und seinem Entwicklungsstand entsprechend zu 
fordern und zu fördern,
kein Kind zurückzulassen oder abzuschreiben, egal welche Gründe gegeben sind,
das Scheitern von mir anvertrauten Kindern immer und immer wieder als Anlass für 
neue Wege meines Lehrens zu nehmen,
Fehler als Chance zu begreifen, nicht als Makel,
Herausforderungen im Bildungsprozess zu setzen, damit Unter- und Überforderung 
nicht eintreten,
Motivationen zu suchen, aufzugreifen und zu wecken,
immer und immer wieder in den Dialog zu gehen, Rückmeldungen zu geben und 
einzuholen, Fragen zu stellen und zuzuhören,
Unterrichtsfächern eine dienende Funktion im Bildungsprozess zuzuschreiben,
alle Bereiche der Persönlichkeit anzusprechen und anzuregen,
Vertrauen in die Welt und die eigene Person zu schenken und tagtäglich sichtbar 
zu machen,
die Klasse und die Schule als Willkommensort zu begreifen und zu gestalten,
für eine wertschätzende, angstfreie und bildungswirksame Atmosphäre und
Beziehung zu sorgen und
für die leibliche, geistige und seelische Unversehrtheit der mir anvertrauten Kinder 
einzustehen.
 
Den Eltern gegenüber verpflichte ich mich,
auf Augenhöhe zu kommunizieren und eine Bildungspartnerschaft aufzubauen,
den Bildungsprozess der Kinder als gemeinsame Aufgabe zu begreifen,
nicht nur regelmäßig zu Gesprächen bereit zu sein, sondern auch aktiv den Kontakt zu 
suchen und
ihre Einschätzungen zum Bildungserfolg und -fortschritt der Kinder ernst zu nehmen 
und mit der eigenen Sichtweise zu verbinden.
 
Den Kolleginnen und Kollegen gegenüber verpflichte ich mich,
meine Erfahrungen in der Erziehung und im Unterricht zu teilen und als Grundlage für 
die kollegiale Professionalisierung zu nutzen,
die tagtäglich gemachten Fehler zu teilen und gemeinsam zu reflektieren,
erfolgreiche Momente in der Schule zurückzuspielen und gegenseitige Anerkennung
zu schenken und
jedem seine individuelle Sichtweise auf Schule und Unterricht zuzugestehen und 
gleichzeitig an einer gemeinsamen Vision zu arbeiten.
 
Der Bildungsöffentlichkeit gegenüber verpflichte ich mich, 
den Bildungs- und Erziehungsauftrag anzunehmen und jederzeit umzusetzen,
nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern alle Bereiche der Persönlichkeit 
in den Blick zu nehmen und zu fördern,
alle Unterrichtsfächer dem Wohl des Kindes und damit dem Bildungs- und Erziehungs-
auftrag unterzuordnen,
loyal, aber nicht blind gegenüber amtlichen Vorgaben zu sein,
alles umzusetzen, was dem Wohl der Kinder dient, und alles zurückzuweisen, was dem 
Wohl des Kindes zuwiderläuft,
jegliche Interessen und Forderungen an Schule und Unterricht, die nicht in erster Linie 
dem Wohl des Kindes entspringen, kritisch zu hinterfragen, gegebenenfalls auch 
öffentlich anzuklagen und zurückzuweisen und
im öffentlichen Diskurs den Kindern und ihrem Recht auf Bildung eine Stimme zu 
geben.
 
Der Gesellschaft gegenüber verpflichte ich mich,
allen voran die Achtung vor der Würde des Menschen als Grundlage und Ziel von 
Schule und Unterricht zu sehen,
die Grundsätze unserer Demokratie zu vermitteln und in der Schule und im Unterricht 
zu verteidigen,
Schule als einen Ort der Reproduktion und der Innovation gesellschaftlicher Werte zu 
sehen,
meine pädagogische Freiheit zu nutzen, um aktuelle Fragestellungen in das Zentrum 
des Schulalltages zu stellen, und
nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft 
gegenüberzustehen.
 
Mir selbst gegenüber verpflichte ich mich,
mein Vorgehen jederzeit zu begründen, kritisch-konstruktiv zu diskutieren und 
gewissenhaft zu reflektieren,
regelmäßig meine fachlichen, pädagogischen und didaktischen Kompetenzen 
weiterzuentwickeln,
regelmäßig meine Berufshaltungen zu reflektieren und
meine Vorbildrolle stets nach bestem Wissen und Gewissen auszufüllen.
 
Ich bekräftige das Gesagte durch meine Bereitschaft, mich jederzeit an den Maßstäben messen zu lassen, die von dieser Verpflichtung ausgehen.

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