Ernst Wirthensohn

Lies!

September 2016

Mein Kater Billy sitzt auf meinem Schoß und blickt immer wieder auf das Buch in meiner Hand. Seit 30 Jahren bin ich Gymnasiallehrer.

Nein, der Mann kommt nicht als ein Schriftzeichen lesendes Tierchen auf die Welt – nicht einmal die Frau! 99,75 Prozent seiner Geschichte hat der Mensch nichts von Buchstaben gewusst und war sich trotzdem keines Mangels bewusst. Geschrieben hat er gar nichts, gelesen dagegen vieles (etwa die Fährten von Tieren, die er sich einverleiben wollte, oder die Blitze am Himmel, die ihm den Schauder des Religiösen einjagten), aber eben keine Lettern.
Die Gutenberg-Galaxis mag uns heute, da wir in der Lage sind, 100.000 Zeichen einer einzigen Zeitung als ein Samstagabendvergnügen zu verspeisen und durch die nächtliche Feuerwerksarbeit in unserem Gehirn sogar einigermaßen zu verdauen und als geistigen Fettpolster anzulegen, unendlich groß erscheinen; in Wirklichkeit von Zeit und Raum ist sie nicht größer als das winzige Universum des kleinen Prinzen, dessen Planet gerade groß genug ist, dass eine Rose auf ihm wachsen kann. Lesen ist eine Fertigkeit, die uns nicht in die Wiege gelegt ist. Das Erlernen dieser Kunst, die wir seit 0,25 Prozent unserer Geschichte für tausendmal lebenswichtiger erachten als das Töten und Zerlegen eines Hirsches oder eines Schweins, ist eine mühsame Sache. Das Baby hat an einem Zeitungsblatt ein einziges Interesse: es in den Mund zu stecken und zu essen. Jede Mutter und mindestens jeder zweite Vater wird das Kleine rasch schütteln, damit es das mit Druckerschwärze kontaminierte Blatt ausspuckt: Lesen vergiftet!

Mein Kater Wilder Billy ist diesbezüglich wesentlich klüger: Er nutzt eine dicke Ausgabe der „Zeit“, die im Kabinett liegt, wo er gerne übernachtet, als angenehme Matratze. Lesen wärmt, ja, aber diese Erfahrung muss man erst machen. Und dass Bücher ansonsten nur zu den geistigen Nahrungsmitteln zu zählen sind, ist einem Kind so lange, bis es in einem Bilderbuch eine Maus von einer Ente unterscheiden kann, ohnehin verschlossen.

Das Baby hat also gar viel einzuschustern, bis es klüger als der Kater ist. Wenn es schließlich groß und größer geworden ist und als Viertel- und Halbwüchsiger seinen Mann und seine Frau als Homo sapiens sapiens stellen muss, wird von ihm verlangt, in relativ kurzer Zeit perfekt lesen zu lernen. Jedenfalls muss das Schulkind diese Kunst so gut beherrschen, dass es nicht die gesamte Nation vor der internationalen Welt blamiert, wenn es jene staatstragenden Prüfungen zu bestehen hat, welche allein schon durch die Benennungen PIRLS und PISA Schrecken verbreiten. Ist aber dieses österreichische Schulkind (in der Statistik gibt es nur ein einziges), was alle Nothelfer verhüten mögen, dabei um ein Jota schwächer, schlechter, gar kompetenzinkompetenter als sein Altersgenosse aus Estland, Neuseeland oder Liechtenstein, erhebt sich ein enormes Geschrei. Die „Bildungsexperten“ laufen (für gute Tantiemen) Sturm, die von der IEA (ein internationaler Verband für Bildungsforschung) und OECD (eine kapitalistische Wirtschaftsorganisation) streng gerügten „Bildungspolitiker“, „Bildungssprecher“, „Bildungspäpste“ rufen den Ausnahmezustand aus, die „Bildungsindustriellenpräsidenten“ warnen vor der Apokalypse: Esten, Neuseeländer und Liechtensteiner werden uns im Bildungswettlauf weit hinter sich lassen, die Industrie wird wegen der Leseunfähigkeit der jungen Generation „versandeln“, alle werden letztlich arbeitslos und bitterarm, die ganze Nation muss an Leseschwäche sterben.

Ich habe noch nichts von der Übermutter der Nation berichtet, die in der megagroßen Verantwortung steht, alle Lesekinder so weit nähren und voranbringen zu müssen, dass das Horrorszenario nicht eintritt. Ich meine natürlich die Unterrichtsministerin, die als Alma Mater der Bildung alle jungen Staatsbürger an den prallen Busen der Lesekultur legen muss (weshalb das Unterrichtsministerium – nach Gewohnheitsrecht – nur noch Frauen führen dürfen). Als Österreich 2009 im PIRLS-Vergleich nur auf den 25. Platz und 2011 im PISA-Vergleich gar auf den 32. Rang (de)klassiert und damit die Leseschwäche unseres Kindes weltweit ruchbar wurde, sprach die Ministerin von einem „niederschmetternden Ergebnis“ und rief sofort einen „Zehn-Punkte-Reform-Plan“ aus. Es war die Rede von „Leseattacken“, „Leseoffensiven“ und, sit venia verbo, „Leseschlachten“. Es wurden Literaturevents, Lesemessen, Bücherhitparaden – und was sich sonst noch hip in den Medien präsentieren lässt – angekündigt. Wohlgemerkt: angekündigt!

Nun hat so eine Frau Ministerin freilich viele fleißige Helfer, die sozusagen den Bienenstaat um die Königin bilden, welcher die real existierende Arbeit leisten muss. Ein solches Insekt spricht in diesem Artikel. Etwas konkreter: Der Verfasser dieses bisher gar zu ironischen Artikels versucht als Lehrer an einem Gymnasium und als Schulbibliothekar seit mehr als 30 Jahren, Kinder und Jugendliche für das Lesen zu begeistern. Natürlich befasst sich so ein Subjekt öfters mit der Kardinalfrage: Was könnte die Ministerin bei der Planung ihrer Bataillen tun, um die Kunst des Lesens wirklich zu fördern und zugleich die PIRLS&PISA-Apokalyptiker zu beruhigen? Dazu lässt sich aus der Praxis der „Lesepädagogik“ (brr! – was für ein vorsintflutliches Wort) einiges sagen, was gar nicht so kompliziert ist und mit „Hilfe des Verstandes“ (brr! – Kant) einleuchtet.

Vorerst müssen wir festhalten, dass Lesen tatsächlich die Grundkompetenz darstellt, welche die Voraussetzung einer umfassenden Bildungsaneignung ist. Und deshalb ist das Geschrei, das den Lesetests folgte, zwar wenig glaubwürdig, weil „die Bildungspolitik“ (wer steht eigentlich hinter dieser Worthülse?) längst etwas gegen das zutage getretene Defizit hätte tun können, aber keineswegs unberechtigt. Wer heute, da Mathematikaufgaben in den Oberstufenklassen manchmal halbe Textseiten umfassen, nicht sinnerfassend lesen kann (derzeit ist es ein Viertel der 15- und 16-Jährigen), muss gar nicht zu rechnen beginnen und ist schon als „Loser“ abqualifiziert und tatsächlich verloren. Und so verhält es sich mit allen Fächern. Leseschwache Kinder sind wirklich in schlimmer Weise benachteiligt, und wir hätten die Pflicht, im Schulwesen alles zu unternehmen, um diese Benachteiligten zu fördern und ihre Schwächen zu beheben. Bei den Maßnahmen müsste freilich schon im Elternhaus begonnen werden, und darüber zu schreiben würde ein eigenes Format füllen. Hier kann nur auf das Nötigste hingewiesen werden, und selbst dies wird bei vielen Eltern, die schon beim Wort „Erziehung“ erschrecken, Anstoß erregen: Wer seinen kleinen Kindern nicht regelmäßig vorliest, versäumt bereits sehr viel. Und man glaube nicht, dass der Staat diese Aufgabe gleichwertig übernehmen kann, wenn man die Sprösslinge schon mit zwei, drei Jahren öffentlichen Institutionen überlässt – die Betreuerinnen mögen bemüht sein, aber ein (Vor-)Lesebiotop kann in einer Krabbel- oder Kinderstube oder in einem Kindergarten nur in bescheidenem Ausmaß geschaffen werden. Die Hirnforschung lehrt uns zudem, dass gerade jene Texte, die man vor dem Einschlafen aufnimmt, optimal abgespeichert werden. Es gibt nichts Besseres, um den Kindern einen großen Wortschatz fürs Leben mitzugeben, als die Gute-Nacht-Geschichte.

Lesen hat sehr viel mit Atmosphäre zu tun! In ein Kinderzimmer einen Fernsehapparat zu stellen ist die beste Methode, diese zu zerstören. Das nicht zu tun, gebietet der Verstand – oder, wenn dieser fehlt, wenigstens die Liebe zum Kind. Und die Tatsache, dass die Eltern Vorbilder sind, was das Lesen betrifft, ist alles andere als neu, aber es wäre nützlich, sie gelegentlich in Erinnerung zu rufen. Leider fehlt jenen, die Verantwortung für die Bildung junger Menschen tragen, meist der Mut, fundamentale pädagogische Einsichten öffentlich zu diskutieren.

Aus kleinen Kindern werden Volksschüler, und bei allen Bemühungen, die an den Grundschulen unternommen werden, bleibt dennoch ein großer Teil der Verantwortung bei den Eltern (und Großeltern). Auch in dieser Lebensphase ist es das Elternhaus, das mitentscheidet, ob Kinder Leser werden oder nicht. Jene Kleinen, die grenzenlosen Zugang zu den elektronischen Medien haben, weil Mutter und/oder Vater ihre Verantwortung nicht wahrnehmen wollen oder können, sind von vornherein stark benachteiligt, und dies nicht nur in ihrer intellektuellen Entwicklung, sondern auch im Hinblick auf die spätere Schulkarriere. Denn was uns die unkritischen Apologeten des technischen Fortschritts und die von ihnen angebeteten Industriemegakonzerne weismachen wollen, dass die „Kopf-unten-Generation“ genauso viel lese wie ihre Vorläufer, ist schlicht falsch. Sie verwechseln das zeitraubende und den Geist in Unruhe versetzende Herumscrollen auf einem Smartphone, das Betrachten von Fotos und Lesen von Kurz- und Kürzestnachrichten sowie das Zeittotschlagen mit größtenteils sinnlosen, unappetitlichen und teilweise erschreckenden Spielen mit dem, was Lesen bedeutet: nämlich dem Erfassen von komplexen, umfangreichen und vielschichtigen Texten in einer aufgeräumten Atmosphäre von Aufmerksamkeit, Stille und Konzentration.

Die Volksschulen! Die Lehrerinnen (wo sind die Männer in diesem Beruf?) haben die sehr große Aufgabe, die Fundamente für die Kunst des Lesens zu bauen. Wahrscheinlich haben sie tatsächlich eine der verantwortungsvollsten Aufgaben im Staat. Ob sie sich dessen bewusst sind, erscheint manchmal unklar; sicher würde es ihnen klarer vor Augen stehen, wenn sie in der Öffentlichkeit mehr Wertschätzung (ideell wie finanziell) genießen dürften. Wir erlauben uns anzunehmen, dass sie sich dennoch nach Kräften mühen, aber viel zu wenig Unterstützung erfahren: Sie unterrichten Klassen, in denen immer mehr Kinder Deutsch nur rudimentär verstehen; sie haben Schüler, die in schwierigen Familienkonstruktionen kaum unterstützt werden; sie stehen unter dem Druck einer verhängnisvollen Bildungsideologie, welche der Didaktik zusehends mehr Gewicht zuschreibt als den Lerninhalten. Schule soll vor allem „Spaß“ machen und „spielerisch“ erfahren werden: Kindern beizubringen, dass Lernen viel Anstrengung, Aufmerksamkeit, Fleiß und Zeitaufwand bedeutet, gilt als von gestern oder gar als bösartige Repression; ihre Bemühungen und Fortschritte mit Ziffern zu benoten grenzt schon an Kindesmissbrauch.

Und deshalb unterwerfen sich viele Lehrpersonen dem Diktat und machen es so, wie dies mittlerweile im gesamten Pflichtschulbereich und darüber hinaus an der Tagesordnung ist – Bildung, überspitzt formuliert, als Unterhaltungszirkus: hier eine Veranstaltung, dort eine andere, morgen Projektunterricht, übermorgen Exkursion, dazwischen viel Freiarbeit und – wenn sonst nichts mehr einfällt – („antiquiert“ gescholtener) klassischer Unterricht. Und wir wundern uns, wenn sich die Schüler nicht mehr auf ihre Aufgaben konzentrieren können und viel zu wenig Zeit bleibt für das, was das Kerngeschäft in der Grundschule ist: mit den Kindern Lesen, Schreiben, Rechnen (vor allem Kopfrechnen) zu üben und immer wieder zu üben, bis diese Grundfertigkeiten automatisiert sind. Wenn wir wieder dahin kämen, was für eine ältere Generation selbstverständlich war, nämlich dass die Kinder am Ende der vierten Klasse Volksschule nahezu fehlerfrei zu schreiben imstande sind, flüssig lesen und altersgemäße Texte problemlos verstehen können, wäre das bereits die halbe Miete für jene Bildungsreform, um die so viel Lärm gemacht wird. Zu den Zehn- bis 14-Jährigen: Die Schulbuchverlage versorgen die Schulen mit brauchbaren Lesebüchern, die mit kurzen und oft einfachen Texten das Grundfutter für den Deutschunterricht bieten. Das ist gut, aber natürlich gibt es nichts Besseres für ihre Leseentwicklung, als in diesen Jahren im Unterricht packende Jugendbücher zu lesen. Erst Langtexte schaffen im Gehirn der jungen Leute jene Transformation, die sie zu „Lesern“ macht. Diese Bücher auszusuchen und bereitzustellen ist Sache der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schulbibliotheken. Wenn es erst einmal gelungen ist, das Feuer zu entfachen – und das ist in dieser Altersstufe oft gar nicht schwer –, muss man es unentwegt hüten und mit viel ansprechendem Lesematerial nähren. Freilich wird dies nur Lehrpersonen gelingen, die selbst für die Literatur brennen und den Jugendlichen vermitteln können, dass Bücher nicht nur äußerst wichtig für ihren Bildungsweg sind, sondern ebenso Freude bereiten können wie die allzeit präsenten Neuen Medien.

Ein Hauptirrtum, den Bildungswissenschaftler und Didaktiker immer wieder verbreiten, besteht in der These, dass sich der Unterrichtsstoff allezeit am „Erlebnishorizont“ der Heranwachsenden orientieren müsse. Beim Lesen ist oft das Gegenteil der Fall: Texte, die ihre Probleme spiegeln, finden sie oft unattraktiv. Was sie im Alltag erleben, wollen sie nicht auch noch lesen, weshalb das Fantasy-Genre den Großteil dessen liefert, was sie selbst in der Freizeit „reinziehen“, wie sie das nennen. Was ihnen jedoch auch gefällt, ist das Erarbeiten von Texten, die nur mithilfe einer Lehrperson zu erschließen sind. Mit Zwölfjährigen kann man beispielsweise bereits Erzählungen des 19. Jahrhunderts (etwa von Ebner-Eschenbach) lesen, und zwei Jahre später gelingt es, komplexe Novellen wie Droste-Hülshoffs „Judenbuche“, Saars „Steinklopfer“ oder Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ zu rezipieren, vorausgesetzt, die Lehrerin/der Lehrer weiß geschickt die historischen Umstände und den sprachlichen Befund zu erklären. Nichts ist hilfreicher, um den Wortschatz der Schüler, der bei vielen wenig über das bescheidene Alltagsdeutsch von Fernsehanstalten wie RTL hinausreicht, zu erweitern, als sich solche „fremden“ Texte anzueignen. Und selbstverständlich ist das frühzeitige Hineinwachsen in älteres Schrifttum die entscheidende Vorarbeit, um mit 17- und 18-Jährigen die klassischen Werke von Lessing, Goethe, Schiller, Kleist oder Büchner „im Original“ lesen zu können. Junge Erwachsene, die erfahren haben, welchen Lebensschatz sie sich damit aneignen durften, werden jenen biederen Geistern, die aus eigener Unkenntnis vom „alten Schmarren, der heute nicht mehr zeitgemäß ist“, reden, souverän entgegnen, dass sie gerade anhand dieser Werke die zentralen und zeitlosen Erfahrungen und Konflikte der menschlichen Existenz beispielhaft diskutieren und durchdenken konnten.

Aber um dies zu tun, braucht es in der Schule Zeit und das, was man ein wenig altmodisch als „kreative Muße“ bezeichnet. Ein Drama wie Goethes „Faust“ benötigt mindestens 15 Stunden Unterrichtszeit, denn es muss im Klassenzimmer gelesen werden. Dieses große Schauspiel als Lesehausübung aufzugeben (was uns Schülern in den1970er-Jahren von den Lehrern zugemutet wurde) bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als den jungen Menschen die klassische Literatur ein für alle Mal zu vergällen. Wird der Text dagegen im Unterricht, unter Einsatz von Medien, gemeinsam erarbeitet, so wird er zum Ereignis, das die Schüler nie mehr vergessen werden. Und so verhält es sich beispielsweise mit „Emilia Galotti“, „Werther“, „Kabale und Liebe“, „Woyzeck“, „Lenz“ oder Werken der Romantik, des Biedermeier und des Realismus, auch wenn man sie nur ausschnittweise liest. Auf diesen Texten aufbauend, kann daraufhin mühelos die moderne Literatur gelesen werden. Dann sind auch Lesehausübungen sinnvoll, denn sie geben den Schülern das Angebot, Texte konzentriert zu rezipieren und dann im Unterricht mit der Lehrperson und den Mitschülern zu reflektieren und in ihren Erfahrungsbereich zu integrieren.
Leider sind es jedoch gerade Zeit und Muße, welche den Schülern weiterführender Schulen kaum mehr zugestanden werden. Ich habe noch keine Maturaklassen erlebt, die dermaßen unter Zeitdruck und Stress standen wie jene der vergangenen beiden Jahre. Die Oberstufe war für sie, bedingt durch eine verpfuschte Oberstufen- und Maturareform, eine einzige Parforcejagd durch Schularbeiten, Tests, Prüfungen und durch Hunderte von „Poolfragen“ zur kompetenzorientierten mündlichen Matura, welche die Lehrer genötigt sind abzuarbeiten.

Gerade im Fach Deutsch (aber auch in den Fremdsprachen) wäre es dringend nötig, den Fokus wieder auf die durch die neue Matura völlig marginalisierte Literatur und damit auf das Lesen zu richten. Dazu müssten freilich die journalistischen Textsorten, die, weil sie bei der schriftlichen Zentralmatura abgeprüft werden, einen Großteil der Unterrichtsstunden erfordern und deshalb sowohl Schülern wie Lehrern zum Hals heraushängen, auf ein sinnvolles Maß reduziert und muss dem literarischen und kreativen Schreiben wieder jener Vorrang eingeräumt werden, den er in einem humanistischen Konzept schon einmal hatte. Gerade diese „Kompetenzen“ sind zur Bewältigung einer immer komplexer werdenden Welt speziell wertvoll, fördern sie doch in besonderem Maße Selbsterkenntnis, Reflexionsfähigkeit, Vorstellungskraft, Formulierungskunst und vor allem Verständnis für das Leben anderer.

Lesen ist tatsächlich der Schlüssel zu Bildung und Welterfahrung. Alle Initiativen im Schulbereich zur Hebung des Lernniveaus, die nicht auf diesem Axiom fußen, verfehlen das Wesentliche. Würde von der Volksschule an der Schwerpunkt auf dieser Kernkompetenz liegen, könnten wir allen Kindern viel bessere Zukunftschancen eröffnen. In diesem Sinne meinen wir Lehrenden, die täglich sehen, wie stark die Kunst des Lesens Schulkarrieren und damit Lebensläufe prägt, es müsste doch möglich sein, maßgebliche Entscheidungsträger für dieses zentrale Anliegen der Bildungspolitik zu gewinnen. Konkret ist allerdings wenig geschehen. Wir haben viele Sonntagsreden gehört. Wir haben gesehen, wie Politiker alle möglichen „Offensiven“ angekündigt haben, von denen wenig in den Schulen angekommen ist. Und wir haben erlebt, dass Deutschstunden gekürzt und der Literaturunterricht durch die jüngste Maturareform bis zur Bedeutungslosigkeit abgewertet wurde.
Mein Kater Billy scheint diesbezüglich klüger zu sein: Wenn ich abends auf meinem Sofa liege und im Schein der Lampe lese, legt er sich sofort auf meinen Schoß und ist sehr aufmerksam. Ich nehme an, ihn treiben dann philosophische und theologische Fragen um, etwa von der Art: „Sind Menschen nur aufgeblasene Mäuse oder vielleicht doch Götter?“ Und immer wieder blickt der kluge Kater auf das Buch in meiner Hand und weiß es sehr genau: Ein Buch ist keine Bratwurst, sondern etwas, was für den Menschen von allergrößter, vielleicht sogar von „heiliger“ Bedeutung ist. Schade, dass er nicht das Unterrichtsministerium übernehmen kann. Er ist ein Männchen.

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