Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das ist doch eine Schande“

Februar 2024

Der deutsche Philosoph Otfried Höffe, von der „FAZ“ anlässlich seines 80. Geburtstags „ein dringlicher Denker“ genannt, spricht im Interview über den Zusammenhalt in der Gesellschaft, aber auch über den Konformitätsdruck, der heutzutage von lautstarken Minderheiten ausgeht. Der renommierte Philosoph fragt: „Warum sind meinungsbildende Kräfte in der Gesellschaft derartig verbohrt?“

Herr Professor, Sie widmen sich in einem Essay der spannenden Frage, was die Gesellschaft noch zusammenhält. Von den Kirchen, den Familien, der Politik geht heute ja kaum noch gesellschaftliche Bindekraft aus … 
Obwohl die Bindekräfte in gewissem Ausmaß in Kirchen und Familien noch geblieben sind, auch in den Betrieben, in denen man arbeitet, sind sie schwächer geworden. Sie haben an Kraft verloren.

Warum also halten moderne Gesellschaften, anstatt zu zerfallen, immer noch zusammen?
Die Antwort liegt auf der Hand. Weil es mindestens zwei religionsunabhängige Bindungen gibt: ein allen Menschen gemeinsames Moralbewusstsein und ein allen Menschen gemeinsames Gespür für Fairness und Anstand, obwohl immer wieder dagegen verstoßen wird. 

Und doch scheint der Egoismus in der Gesellschaft zuzunehmen. Sie haben in Ihrem Essay ein bemerkenswertes Zitat angeführt: ‚Wo das Interesse allein regiert …
… ist jedes Ich mit jedem anderen auf Kriegsfuß.‘ Das ist eine wunderbare Bemerkung von Emile Durkheim, einem der ersten Soziologen. Aber man muss fragen, ob es denn stimmt, was immer behauptet wird: dass zunehmend egoistische Menschen untereinander nur noch mit Ellbogen Kontakt pflegen und sich unfair und unsozial verhalten. Ich sehe darin eine Fehldiagnose, die einem Bemühen, alles zu kritisieren, allerdings sehr zupass kommt.

Eine Fehldiagnose?
Vergessen wir nicht das hohe Maß an ehrenamtlicher Tätigkeit, das viele Menschen pflegen. Das ist doch ein Zeichen, dass sich Menschen gleichwohl für die Interessen anderer einsetzen. In der Flüchtlingskrise beispielsweise wären unsere Gesellschaften längst zusammengebrochen, wenn nicht so viele Menschen mit so viel Engagement ehrenamtlich tätig wären. Wir haben also beides und beides zugleich: ein hohes Maß an Eigenbewusstsein und ein hohes Maß an sozialer Verantwortung.

Ihre gute Nachricht lautet: ‚Bislang haben die Demokratien noch alle Katastrophenszenarien als voreiligen Pessimismus entlarvt.‘ 
Das trifft glücklicherweise zu. Trotz Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Umweltkrise und anderer Krisen sind moderne Gesellschaften noch lange nicht zusammengebrochen. Das ist eine Tatsache, die Katastrophendiagnostiker zur Kenntnis nehmen sollten. Unter Soziologen ist es zwar verbreitet, eher das Auseinanderbrechen als das Zusammenhalten zu betonen. Darin zeigt sich jedoch eine fast ideologische Voreingenommenheit statt der von ihrem Fach her gebotenen Fähigkeit und Bereitschaft zur wirklichkeitsgerechen Diagnose. 

Die Demokratie …
Der Demokratie gelingt es, gegen ihre immer wieder neuen Bedrohungen die zu deren Bewältigung erforderlichen Kräfte zu entfalten. Ungefährdet ist sie gleichwohl nicht. Sie hat beispielsweise mit einem neuartigen Problem zu kämpfen.

Einem neuartiges Problem?
Politische Denker wie einst John Stuart Mill warnten vor einer Diktatur der Mehrheit: vor ihrem die Freiheit bedrohenden Konformitätsdruck. Dieser Konformitätsdruck droht jedoch mittlerweile eher von der anderen Seite: von Minderheiten, die recht aggressiv und in großer Intoleranz das öffentlich-rechtliche Denken und Sprechen in ihre Richtungen nicht bloß zu drängen, sondern sogar zu zwingen versuchen. Der berechtigte Kampf gegen jede Diskriminierung schlägt um in beinahe Sonderrechte von Minderheiten. Nehme man als Beispiel die heikle Frage des Feminismus. Dass alle Frauen gleichberechtigt sein sollen, ist konkurrenzlos und kompromisslos richtig. Aber das darf nicht dazu führen, wofür es leider zahlreiche Beispiele gibt, bei der Vergabe von Professuren und anderen hochrangigen Positionen aufgrund ideologischer Vorentscheidungen der Qualifikation ein geringeres und dem biologischen Geschlecht ein größeres Gewicht zu geben. 
 
Sie sagten zuletzt dem Magazin ‚Cicero‘, dass es unserer politischen Kultur sowohl an der Fähigkeit als auch an der Bereitschaft fehlen würde, sich für vernünftige Lösungen zu entscheiden…
Das trifft meines Erachtens bedauerlicherweise zu. Solange der Machterhalt und das Wohl der Partei wichtiger sind als das Gemeinwohl, fallen vernünftige Lösungen schwer. Das ist, man muss es so klar sagen, eine moralische und eine politische Schande. Die gewählten Politiker haben einen Eid geschworen, sich für das Wohl ihres Volkes einzusetzen und am Ende…

Steht diesen fehlenden vernünftigen Lösungen auch die Angst der Politiker entgegen, das Falsche zu formulieren, das Falsche zu tun? Und damit die zuvor erwähnten Minderheiten gegen sich aufzubringen?
Hier kann man mit einem Zitat antworten: „One man with courage is a majority“. „Ein Mensch mit Zivilcourage ist eine Mehrheit“, wie ein US-amerikanischer Präsident, Andrew Jackson, es formuliert hat. Was wir von jedem Bürger erwarten, Zivilcourage, können und müssen wir auch von jedem verantwortlichen Politiker erwarten. Wenn er stattdessen stärker am Erhalt seiner und am Wohl seiner Partei interessiert ist, pflegt er einen klaren Machiavellismus. 
 
Sie verweisen im Essay auch auf Kant. Sie postulieren: ‚Statt sich aus Faulheit und Feigheit fremden Autoritäten zu unterwerfen, soll man selbst couragiert denken.‘
Kant hat die Frage, was Aufklärung ist, bekanntermaßen so formuliert: ,Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.‘ Wer sich seines eigenen Verstandes bedient, schaut auf die eigene Verantwortung, und schiebt sie nicht auf die Eltern, die Lehrer oder ,die Gesellschaft‘. Man ist vielmehr selbst gefragt und selbst gefordert. In der Wirklichkeit aber ist die Neigung, immer die anderen verantwortlich zu machen, viel zu groß. ,Natürlich‘ sind Intelligenz und wissenschaftliches Denken unterschiedlich verbreitet. Den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, den kann freilich jeder aufbringen. Das ist ein Punkt, den Kant als zutiefst demokratischer Denker immer wieder betont.

Wobei denken lassen bequemer ist als selbst denken.
Das mag wahr sein. Viele halten es für bequemer, zum Beispiel sich in Fragen der Gesundheit nur an den Arzt und in Fragen der Moral – hier längst immer weniger – nur an den Pfarrer zu wenden. 

Man hört es im Gespräch und liest es in Ihren Büchern: Sie sind ein Mann der klaren Worte. Aber der Raum für Argumente wird, überwacht von der Moral-Polizei, immer enger.
Ohne Frage darf es nirgendwo, vor allem jedoch in einer freiheitlichen Demokratie einen im Voraus festgelegten Meinungskorridor geben. Tatsächlich fehlt es häufig an Courage, dagegen anzugehen – und zu sagen, dass beispielsweise das öffentlich-rechtliche Fernsehen immer wieder seine Machtposition missbraucht. Man darf auch nicht vergessen, dass gewisse kirchliche Kreise von einer Moralpolizei nicht fern sind.

Diese Sprach-Tabus, dieser festgelegte Meinungskorridor, das wird doch den Philosophen in Ihnen immens ärgern.
Da haben Sie recht! Wobei mich das nicht nur als Philosophen, sondern auch als Staatsbürger, als mündigen Bürger ärgert. 

Wer nicht gendert, ist frauenfeindlich. Wer die Klimakleber nicht mag, ein Umweltsünder. Wer gegen den unbegrenzten Zuzug argumentiert, ein Ausländerfeind. Es gibt genügend Beispiele.
Ja. Ein kleines, aber sprechendes Beispiel: von den drei Sternsingern darf nicht mehr wie bisher üblich einer schwarz angemalt sein. Wobei man darüber den Kopf schütteln muss: Symbolisiert werden doch die Weisen aus dem Morgenland. Wenn einer von ihnen als ein Schwarzer erscheint, so wird ihm doch ein Ehrentitel zugesprochen. Die Schwarzen werden hier nicht unterdrückt, sondern zu einem Vertreter der intellektuellen und geistigen Spitzenkräfte erklärt. Aber so weit denkt keiner. Manchmal schon hier, deutlicher mit anderen Ansichten, gilt man als rechtsextrem, sogar als verfassungsfeindlich. Wegen der Bedeutung darf man es wiederholen: Es ist eine Schande, dass eine Gesellschaft, die als Demokratie von den Debatten lebt, den Meinungskorridor im Voraus festlegt und immer enger macht. Da zeigt sich die Macht gewisser Gruppen, denen das gelungen ist – etwa beim Gendern, oder bei der absoluten Übermacht, die dem Klimaschutz über andere Politikfelder eingeräumt wird. Warum …

Ja, bitte?
Warum sind meinungsbildende Kräfte in der Gesellschaft derartig verbohrt? Warum wird nicht mehr das gemacht, was die eigentliche Aufgabe der Politik wäre: die verschiedenen Aufgaben, also außer dem Umwelt- und Klimaschutz, auch das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und die innere und die äußere Sicherheit, zu erkennen, zu nennen, gegeneinander abzuwägen und dann Vernünftiges zu beschließen. 

Dort, bei den erwähnten Minderheiten, regiert das Motto: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.
Das ist wahr. Wobei der Satz, aus dem Neuen Testament bekannt, für eine allein seligmachende Religionsgemeinschaft zutreffen mag, aber in demokratischen Verhältnissen keinen Platz hat.
 
Mit Wohlwollen kann man diesen lauten Minderheiten zubilligen, die Welt nur verbessern zu wollen. Steht über all dem also der naive Wunsch, in der Welt dürfe es nur Gutes geben? 
Das könnte, den Betreffenden aber nicht so bewusst, der Fall sein. Allerdings müssten zumindest die Vertreter christlicher Kirchen sich dem verschließen. ,Im Prinzip‘ kennen sie doch den Gedanken der Erbsünde und reden sie von Todsünden. Sie wissen um die Macht des Bösen, für dessen Überwindung sie den Kreuzestod und die Auferstehung ihres Gründers für notwendig halten. Also müssten sie wissen: Ein nur gutes Leben gibt es nur im Jenseits. Manche kirchlichen Kreise sind mittlerweile freilich mehr an Politik interessiert, als sich hinreichend für Spiritualität, Liturgie und weitere genuin religiöse Dinge verantwortlich zu fühlen. Dabei ist die Vorstellung eines Zusammenhalts in purem Einklang naiv. Eine Ameisenkolonie mit ihrem selbstverständlichen Altruismus ist als Vorbild weder wünschenswert noch existenz-fähig. Und eine Welt, in der die Menschen nur einander umarmen und friedliche Lieder singen, ist nicht bloß wirklichkeitsfremd, sondern auch langweilig.

Sie haben für alle, die so denken, die schlechte Nachricht, dass es in der Welt eben nicht nur Schwarz und Weiß gibt und nicht nur Gut und Böse.
Selbst für diese Alternative Gut oder Böse ist die Wirklichkeit viel zu komplex. Bevor wir gewisse Phänomene als weiß, weil gut oder schwarz, weil böse oder als etwas dazwischen einschätzen, müssen wir sehen, dass es für die facettenreiche Wirklichkeit noch andere Beurteilungen gibt, zum Beispiel elegant oder unelegant, schön oder hässlich und klug oder töricht. 

Es braucht das offene Wort?
Ja klar. Aber ich würde nicht nur sagen, das offene Wort, sondern: den offenen Blick auf die Welt. Den sollten wir uns doch nicht nehmen lassen, wozu wir einmal mehr Kant zum Gewährsmann nehmen können: Es sollen uns nicht die Ärzte oder die Pfarrer oder die öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Anstalten sagen, was wir zu denken haben. Wir sollten selbst denken und auch die Unvernunft überwinden, entweder alles schwarz zu malen oder alles gesund zu beten. Wir sollten die Welt nehmen, wie sie ist – aber auch, wo nötig, sie zu verbessern suchen. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Otfried Höffe, * 1943 in Leobschütz, ist emeritierter Ordinarius für Philosophie an der Universität Tübingen, hat aber noch eine Teilprofessur an der renommierten Tsinghua Universität in Peking inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Aristoteles und Kant sowie Moralphilosophie, angewandte Ethik und Politische Philosophie. Von ihm sind mehr als dreißig Monographien erschienen, unter anderem der in diesem Interview thematisierte Essay: Otfried Höffe, „Was hält die Gesellschaft noch zusammen?“, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 2021. Sein aktuelles Buch trägt den Titel „Immanuel Kant heute“, S. Marix Verlag, Frankfurt/Main, September 2023.

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