Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das wäre nicht glaubwürdig“

Oktober 2024

Die Schweizerin Meret Baumann, mit einem Unterbruch seit 2013 Korrespondentin der renommierten Neuen Zürcher Zeitung in Wien, ist eine profunde Kennerin der österreichischen Politik. Die Journalistin im Gespräch über Regierungsverhandlungen und Politdramas, über Wirtschaftsindikatoren, die in die falsche Richtung zeigen – und über den Mentalitätsunterschied zwischen Vorarlberg und Wien.

Frau Baumann, wundern Sie sich als Schweizerin bisweilen über Österreichs Politiker? 
Immer wieder. Wobei ich gelegentlich auch über Politiker und Politikerinnen in anderen Ländern staune, auch in der Schweiz. Aber wenn Sie mich fragen, was mich an Österreichs Politik wundert, dann kommt mir unter anderem der abgelaufene Wahlkampf in den Sinn. Ein Beispiel: Kickl bezeichnet die politischen Gegner als Volksverräter, schreibt sie rhetorisch gar auf Fahndungslisten – und wundert sich dann, dass niemand mit ihm koalieren will.

Und besucht den Bundespräsidenten, den er als ‚senile Mumie in der Hofburg‘ tituliert hat.
Diese Gespräche gehören zum Procedere. Aber diese Rhetorik macht ein Zusammenarbeiten natürlich schwer.

Sie haben letzthin in einem Interview den herrlichen Satz gesagt: „Politik ist bei Euch immer ein unterhaltsames Drama.“
Denken Sie nur an den Ibiza-Skandal! Oder an die Bundespräsidentenwahl 2016, die wegen allerlei Unzulänglichkeiten zunächst aufgehoben wurde und dann verschoben werden musste, weil die Kuverts nicht klebten. Das sind Sachen, die man kaum erfinden kann.

Allerdings laufen diesem Drama allmählich die Zuschauer davon …
Die Einschaltquoten dieser unzähligen Diskussionssendungen vor der Wahl waren eigentlich ganz gut. Und die Wahlbeteiligung ist gegenüber 2019 gestiegen und liegt bei rund 80 Prozent. In der Schweiz hatten wir bei der letzten Wahl dagegen eine Beteiligung von unter 50 Prozent. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass Wahlen bei uns wegen der direkten Demokratie weniger wichtig sind. Aber es ist trotzdem ein großer Unterschied. Ich bin deshalb nicht sicher, ob tatsächlich die Zuschauer davonlaufen. Die Unzufriedenheit scheint nicht zu einem geringeren Interesse an der Politik zu führen, sondern eher sogar die Teilnahme an der Politik zu fördern.

In der Schweiz ist ein solches Politdrama trotzdem nie zu sehen. Woran liegt das?
Zum einen glaube ich, dass die Schweizerinnen und Schweizer schon von ihrem Wesen her viel nüchterner sind als die Österreicherinnen und Österreicher. Vergleichen Sie nur einmal die Übertragung eines Skirennens auf SRF mit derjenigen im ORF: Das ist schon ein großer Unterschied. Und zum anderen spielt das Schweizer System mit der direkten Demokratie natürlich eine wichtige Rolle. In der Schweiz entscheiden wir ständig über konkrete, zum Teil auch komplizierte Sachfragen. Das macht die einzelnen Parteien und Personen weniger wichtig. Die treten in den Hintergrund.

Was der Sache gut tun dürfte.
Finde ich persönlich schon, ja. 

Ein weiterer, deutlicher Unterschied zur Schweiz dürfte auch die österreichische Melange zwischen Politik und Boulevard sein. 
Dass Medien über Inserate der öffentlichen Hand quasi gekauft werden, dass versucht wird, sich damit eine wohlwollende Berichterstattung zu sichern, das gibt es in der Schweiz nicht. Ein anderer wichtiger Unterschied ist, dass sich in Österreich alles auf Wien konzentriert. Die Schweiz ist auch ein kleines Land. Aber sie ist viel dezentraler. Wir haben verschiedene Sprachregionen, verschiedene Konfessionen und verschiedene Zentren; das wirkt der Verhaberung entgegen. Ich merke, wie in Wien versucht wird, einen zu vereinnahmen. Ich habe mir deswegen einige Regeln auferlegt: Ich meide bestimmte Anlässe, bei denen zu viel Nähe entstehen kann, und ich duze Politikerinnen und Politiker nicht. Zumindest solange ich über sie schreibe.

Sie nannten in einer Analyse in der NZZ mehrere Gründe, warum die FPÖ Stimmenstärkste wurde. Könnten Sie an dieser Stelle drei dieser Gründe nennen?
Erstens: Die Migrationspolitik. Wobei es vor allem die schlecht funktionierende Integration ist, die der FPÖ Stimmen zuträgt. Zweitens: Die Unzufriedenheit mit der restriktiven Corona-Politik. Für all diejenigen, die diesen restriktiven Kurs nicht richtig fanden, stand eigentlich nur die FPÖ. Und als dritten Grund würde ich die allgemeine Unzufriedenheit mit den Regierenden in einer krisenhaften Zeit nennen. Da ist Österreich ja kein Einzelfall, wir sehen das auch in vielen anderen Ländern.

Gibt es in Ihren Augen eigentlich demokratiepolitisch triftige Gründe, die FPÖ als stimmenstärkste Partei bei der Regierungsbildung außen vor zu lassen?
Ja, die gibt es. Ich kann die politischen Argumente der anderen Parteien nachvollziehen, warum sie nicht mit der FPÖ zusammenarbeiten wollen: Aggressivität in der Rhetorik, Nähe zu Russland, Anti-­EU-Kurs, die angekündigte Orbanisierung. Ich würde aber nicht sagen, dass das ‚System‘ die FPÖ einfach ausgegrenzt hat. Der Bundespräsident hat Zeit eingeräumt, damit alle nochmals miteinander reden. Aber letztlich musste Kickl ihm eben sagen, dass er keine Mehrheit findet. So sind die Spielregeln in einem parlamentarischen System.

Sie haben bereits einen Tag nach der Nationalratswahl in der NZZ geschrieben, dass eine schwarz-blaue Koalition sehr unwahrscheinlich sei. Ihre präzise Formulierung: „Die ÖVP verlöre nicht nur das Kanzleramt, sondern auch das Gesicht.“
Bundeskanzler Karl Nehammer war in seinen Aussagen über Kickl so klar, dass er meines Erachtens nicht davon abrücken kann. Er nannte ihn einen Verschwörungstheoretiker, einen Rechtsex­tremen, eine Gefahr für die Demokratie; angesichts dieser Aussagen kann man nach der Wahl nicht einfach sagen, man habe das eigentlich nicht so gemeint und wolle jetzt doch zusammenarbeiten. Das wäre nicht glaubwürdig.

Österreichs Parteien haben nach der Wahl über drei Wochen gebraucht, um zu erkennen, was bereits Wochen vor der Wahl feststand: Dass niemand mit der FPÖ koalieren will …
Die FPÖ hat einen großen Wahlsieg errungen, ist klar stärkste Kraft. Da finde ich es richtig, dass man ihr die Zeit gegeben hat, wirklich herauszufinden: Gilt nach der Wahl immer noch, was vor der Wahl gesagt wurde? Und findet sie tatsächlich keine Mehrheit? Die Zeit, das zu klären, konnte man sich nehmen; zumal Österreich ja eine funktionierende Regierung hat.

Schwarz und Rot führen nun Gespräche, vermutlich unter Beteiligung dann der Neos. 
Ich bin gespannt, wie diese Parteien, die inhaltlich eigentlich nicht zusammenpassen, zusammenfinden wollen. Obwohl klar ist, dass sie das müssen. Weil die Alternative eben Kickl ist. 

Rechnen Sie mit langen Verhandlungen?
Eigentlich dachte ich, dass es lange dauern wird, weil die Parteien in so vielen wichtigen Fragen gegensätzliche Positionen haben. Um nicht ständig Konflikte in der Regierung zu haben, braucht es deshalb ein detailliertes Abkommen, in dem alle diese strittigen Fragen geregelt werden. Nehammer könnte sich allerdings gezwungen sehen, bereits vor der Steiermark-Wahl Ende November irgendetwas Handfestes vorweisen zu müssen. Denn bei einer weiteren schweren Niederlage für die ÖVP könnte er intern unter Druck geraten. Obmann-Debatten sind ja kein Fremdwort für die ÖVP.

Wird sich Babler in Ihren Augen länger halten können? Oder bald rote Geschichte sein?
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, vorläufig wird sich Babler noch halten können. Die SPÖ wird in den Regierungsverhandlungen Zugeständnisse machen müssen, die für die Partei schmerzhaft sein werden. Würde das bereits ein neuer Parteichef machen müssen, wäre der gleich beschädigt. Aber ob Babler in einem Jahr noch Parteichef sein wird? Man wird auch den Ausgang der nächsten Landtagswahlen abwarten müssen.

Welche Punkte zwischen Schwarz und Rot sind Ihrer Ansicht nach denn besonders strittig?
Das ist für mich eindeutig die Wirtschafts- und Sozialpolitik, in einer Zeit, in der kein Geld da ist. Die Regierung wird Einsparungen machen müssen, im nächsten Jahr schon. Brüssel verlangt offenbar eine Ausgabenreduktion von 2,5 Milliarden Euro. Das ist viel Geld. 

Wirtschaftsvertreter schauen diesen Verhandlungen angesichts Bablers Vorstellungen mit sehr großer Skepsis zu.
Das kann ich nachvollziehen. Wobei: Babler wird von seinen Wahlkampfversprechen abrücken müssen. Dieses Signal gibt es bereits. Die Partei hat ihm ein Verhandlungsteam zur Seite gestellt, in dem zum Beispiel Doris Bures sitzt, die Bablers Wirtschaftsprogramm bereits im Wahlkampf in einer Mail als unernsthaft bezeichnet hat. Und Michael Ludwig, der mächtigste Sozialdemokrat des Landes, hat ja auch schon gesagt, dass Vermögenssteuern keine Koalitionsbedingung sein dürfen. Da wurde also schon etwas abgerüstet.

Kickl zu verhindern, wird als Programm einer Regierung auf Dauer zu wenig sein. Österreich braucht dringend Reformen. In welchen Bereichen sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Eindeutig in der Wirtschafts- und Standortpolitik. Blickt man auf die Konjunkturlage, sieht man: Österreich ist derzeit der kranke Mann Europas. Das sagen nicht nur die Zahlen, das sagt zum Beispiel auch der Chefanalyst der Raiffeisenbank. Die Wettbewerbsfähigkeit ist schlecht derzeit, da ist dringend gegenzusteuern. 

Auch da soll auf klare Worte von Ihnen verwiesen sein: Österreichs Wirtschaft drohe der schleichende Abstieg, die Wirtschaftslage sei noch schlechter als angenommen, schrieben Sie unter Berufung auf Wirtschaftsforscher. Man gewinnt den Eindruck, dass diese Fakten in Österreichs Politik so gar nicht kommuniziert werden …
Die Experten warnen schon seit Monaten. Aber im Wahlkampf hat man das Wort Sparpaket nicht nur nicht in den Mund genommen, man hat sogar dementiert, dass Einsparungen nötig seien. Und just vier Tage nach der Nationalratswahl erhöht das Finanzministerium die Defizitprognose. Zwar hat Österreich im Vergleich mit anderen EU-Ländern immer noch ein hohes Wohlstandsniveau. Aber alle Indikatoren zeigen derzeit in die falsche Richtung. Das ist gefährlich.

Nicht, dass die Schweiz in so einer Situation wäre, aber die Frage: Wie würde die Schweizer Politik in einer derartigen Situation reagieren? 
Wir haben weniger alarmierende Zahlen, sind aber insofern in einer ähnlichen Lage, als die Schweizer Verfassung ja eine Schuldenbremse verankert hat. Und weil sich laut Prognosen ab 2027 Defizite abzeichnen, muss auch die Schweiz sparen. Zudem hat das Parlament zusätzliche Ausgaben für die Armee beschlossen, und das geht nicht ohne Sparmaßnahmen. Die Regierung hat deshalb eine Expertengruppe eingesetzt, die kürzlich ihre Vorschläge präsentiert hat; von diesen Vorschlägen will der Bundesrat etwa 90 Prozent übernehmen. Die Umsetzung wird im Parlament allerdings heftig debattiert werden und jeder Einzelfall umstritten sein. Was konkret von den Vorschlägen übrig bleibt, ist offen. 

Zum Abschluss: Nehmen Sie eigentlich Mentalitätsunterschiede zwischen Vorarlberg und Wien wahr?
Ja. Große! (lacht) Als die Elefantenrunde vor der Vorarlbergwahl österreichweit ausgestrahlt wurde, war man hier in Wien einigermaßen erstaunt, wie gesittet in Vorarlberg der politische Diskurs geführt wird. Das ist schon anders. Die politische Debatte ist sachlicher. Und es gibt in Vorarlberg einen stärkeren Fokus auf wirtschaftliche Fragen. Es herrscht ein bisschen mehr Realitätsbewusstsein. Man merkt, dass Vorarlberg zwischen der Schweiz und Ostösterreich liegt. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Meret Baumann hat in Zürich und Rom Rechtswissenschaften studiert und arbeitet seit 2006 im Auslandressort der NZZ. Seit Januar ist sie wieder Korrespondentin für Österreich und Ostmitteleuropa in Wien, wo sie bereits zwischen 2013 und 2019 stationiert war.

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