Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Der Weg der Radikalisierung

November 2024

Seit 2023 gab es in Österreich sieben versuchte jihadistische Anschläge. In den meisten Fällen hatten radikalisierte jugendliche Islamisten die Anschläge geplant. Doch wie radikalisieren sich diese jungen Leute? Welche Rolle spielen dabei Online-Hassprediger? Und woran erkennt man, ob sich nun tatsächlich jemand radikalisiert hat? Ein Gespräch mit Daniela Pisoiu (43); Die promovierte Politikwissenschaftlerin untersucht seit knapp zwanzig Jahren Radikalisierungsprozesse von Terroristen und Extremisten. 

Österreichs Sicherheitsbehörden verhinderten einen Anschlag auf ein Taylor Swift Konzert in Wien, nach einem Hinweis ausländischer Nachrichtendienste. Der festgenommene 19-jährige Hauptverdächtige Beran A., wohnhaft in Ternitz, hatte kurz vor dem geplanten Anschlag der Terrororganisation IS online die Treue geschworen. Was weiß man über ihn?
Es gibt Details in seiner Biografie, die gut zum Profil des IS-Rekruten der jüngeren Zeit passen. Beran A. ist bereits in der Schule durch Gewaltakte aufgefallen, war später im Berufsleben erfolglos. Die jungen Menschen, die vom IS mittlerweile bevorzugt angesprochen werden, sind sehr oft entweder selbst kleinkriminell oder halten sich in einem kriminellen Umfeld auf. Sie haben Probleme in der Schule, sind dann oft auch beschäftigungslos und ohne Perspektive. Sie sind bereits in jungen Jahren gescheitert. 

Und dann?
Und dann werden sie angesprochen. Die Rekrutierungsstrategie des IS ist deswegen so erfolgreich, weil den Rekrutierten sehr oft das Gegenteil dessen angeboten wird, was sie bisher erfahren haben: Status, Anerkennung, Zugehörigkeit, das Gefühl, etwas Wichtiges zu machen. Für einen Außenseiter ist das schwer nachvollziehbar. Aber wer bereits in dieser Szene ist und diesen Radikalisierungsprozess durchgemacht hat, der bekommt dieses Gefühl: Dass man etwas Besonderes ist. Dass man etwas Besonders macht, natürlich so wahrgenommen durch die alternative Brille der neuen Weltanschauung. Und berühmt wird. Deswegen werden unter anderem kurz vor dem geplanten Anschlag all diese Videos aufgenommen.

Diesen jungen Attentätern geht es um Ruhm und Anerkennung? Nicht um Religion?
Denen geht es um Ruhm, um Anerkennung. Das ist deren primäre Motivation. Wobei im Radikalisierungsprozess unterschiedliche Motivationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine Rolle spielen. Am Anfang einer jeden Radikalisierung geht es sehr stark um Politik. Mit einem Gefühl der Empörung über eine wahrgenommene Ungerechtigkeit in der Welt fängt es an. Bilder spielen dabei eine wesentliche Rolle. Bilder von Opfern. Deswegen sind solche Radikalisierungs-vorläufe immer sehr stark mit Konflikten verbunden. Vor ein paar Jahren war es der Konflikt in Syrien. Heute ist es der Konflikt in Gaza. Und da kommen diese Online-Influencer ins Spiel, diese Online-Hassprediger. 

Wie agieren denn diese Online-Hassprediger?
Sie verbreiten vor allem auf TikTok, aber auch auf Instagram ihre salafistischen Botschaften. Ihre salafistische Propaganda. Sie sprechen kurz und bündig. Oft auch zu alltäglichen Themen. Zu Identitätsfragen. Die Jugendlichen hören zu. Sie erfahren geschickte Interpretationen davon, was ‚halal‘ – also erlaubt – ist, und was ‚haram‘ – verboten – ist. Wobei der religiöse Aspekt bei der heutigen Generation der Attentäter nur noch auf eine Art Regelkatalog reduziert ist, was man darf und was man nicht darf. Die Jungen haben nicht mehr diese umfassenden Kenntnisse von Religion und Ideologie, die frühere Generationen von Attentätern noch hatten. Auch das hat mit den sozialen Medien zu tun. Denn deren Mechanismen finden auch beim Radikalisierungs-Prozess Anwendung. Geliefert werden auch hier kurze, kompakte Inhalte. Auch die Art der Präsentation ist wichtig. Es geht um den ästhetischen Aspekt. Die Präsentation. Die Musik. Die Kleidung. Die Anzahl der Follower. Die neue Radikalisierung weist sehr viele europäische Züge auf. Das Ideologische wird importiert, aber das Ästhetische ist vielfach europäisch geprägt. 

Beran A. stammt aus Nordmazedonien, wie auch jener Islamist, der 2020 in der Wiener Innenstadt vier Menschen erschossen hatte. 
Soweit wir wissen, gibt es keine persönliche Verbindung zwischen den Tätern. Aber etwas weiß man auf jeden Fall: Beran A. ist ein Nachahmungstäter. Auch die Pose in seinem Video ist eine Kopie dessen, was der 2020er Attentäter gemacht hat. Bei Jihadisten – im Übrigen auch bei anderen Extremisten – fungieren ‚erfolgreiche‘ Attentäter als Vorbilder für die Nächsten. Man will etwas Ähnliches machen. Man will den gleichen Ruhm, die gleiche Berühmtheit. Da spielen leider auch die Medien eine große Rolle. 

Gibt es weitere Parallelen zwischen den beiden Fällen?
Ja. Die islamistische Szene in Wien, in Österreich, ist mit der auf dem Westbalkan eng verbunden. Das ist schon seit langer Zeit so. Im Zuge der Balkankriege Anfang der 1990er sind islamistische Kämpfer aus Afghanistan nach Bosnien gekommen, um ihren muslimischen Brüdern zu helfen. Viele dieser Kämpfer sind dann geblieben. Auch haben Saudi-Arabien und sonstige Golfstaaten damals dort massiv investiert und über salafistische Ideologen propagiert. Das waren Prediger, die sich in Medina hatten ausbilden lassen. Die sind im Laufe der Zeit immer weiter nach Westen gekommen, auch nach Wien. Seither gibt es einen sehr regen Austausch zwischen der Szene hier und der Szene dort.

Lässt sich dieser Austausch nicht unterbinden?
Die Behörden sehen nicht tatenlos zu. Der Hass-Prediger Mirsad Omerovic wurde in Österreich 2016 rechtskräftig verurteilt, zu 20 Jahren Haft. Omerovic gilt in Österreich als der Hauptrekrutierer und Hauptindoktrinierer für die IS-Auslandskämpfer, die nach Syrien gegangen sind. Er sitzt im Gefängnis. Aber seine Predigten kann man immer noch online finden. Das ist das Problem: Auch wenn man diese Leute festnimmt und einsperrt, ihre Ideen sind noch immer da. Zudem bleiben diese Online-Hassprediger mit ihrer salafistischen Propaganda oft bewusst unterhalb der Grenze des Strafbaren. Erst auf Telegram, in geschlossenen Chat-Rooms, wird dann unmissverständlich gesprochen. 

Warum ist Österreich zum Ziel geworden?
Wien war Drehscheibe für unterschiedliche Bewegungen von Terroristen. Aber eine eigene islamistische Szene hatte es in Österreich lange nicht gegeben. Die entstand erst mit dem Konflikt in Syrien, ab 2011. Mit dem Beginn des dortigen Konflikts wuchs die hiesige Szene. Unglaublich schnell. Und in einem unglaublichen Ausmaß. Österreich war, proportional zur Bevölkerung, die Nummer zwei in Europa, was die Anzahl an Auslandskämpfern anging. Nachdem der IS vor Ort besiegt wurde, schrumpfte diese Szene wieder. Aber nun hat der Konflikt in Gaza dazu geführt, dass wir am Anfang einer neuen Welle stehen. Der IS instrumentalisiert diesen Konflikt, um potenzielle Attentäter anzuheuern. Sie sagen denen: Wenn ihr den Palästinensern helfen wollt, dann müsst ihr in Europa Anschläge verüben. Und dabei stehen jene Länder im Zentrum, die sich pro Israel positionieren – wie eben Österreich und Deutschland. Wobei die Hauptstädte Europas weiterhin Ziel bleiben. London. Paris. Denn das Hauptziel des Terrorismus ist eben, durch Anschläge maximale Aufmerksamkeit zu gewinnen und das kann man gewährleisten, indem man sehr große Events und Ziele wählt.

Es gab in Österreich auch weitere – von den Behörden verhinderte – Anschlagpläne.
Seit Anfang 2023 gab es sieben mögliche jihadistische Terrorplots: in Wien, Bruck an der Mur, Graz, und Steyr. Geplant waren unter anderem Anschläge auf eine Schule, einen Hauptbahnhof, eine Synagoge und auf die Regenbogenparade. Mit einer Ausnahme sind diese Plots von Minderjährigen oder von jungen Leuten geplant worden. In Graz hatte übrigens ein 14-jähriges Mädchen angeblich einen Terrorangriff mit einem Messer geplant. Es gilt die Unschuldsvermutung. Laut einer SCENOR-Studie über geplante jihadistische Anschläge ist der zunehmende Anteil an Minderjährigen, die in Terrorplots beteiligt sind, ein eindeutiger Trend in Europa.

Seit Oktober 2023 haben sich laut dem Experten Peter Neumann in Westeuropa sechs Attentate und 21 Fälle von jihadistisch motivierten Anschlagsplanungen ereignet. Zwei Drittel der Tatverdächtigen waren Jugendliche, im Alter zwischen 13 und 19 Jahren. 
Das muss man differenziert betrachten. Bei den Anschlägen, die tatsächlich durchgeführt wurden, war die Anzahl von Minderjährigen überschaubar. Da zeigt sich kaum ein Unterschied zu den zehn Jahren davor. Bei den nur geplanten Anschlägen aber gibt es tatsächlich eine sehr große Anzahl von Minderjährigen. Wobei uns das nützen könnte.

Wie ist denn das zu verstehen?
Jugendliche, die einen Anschlag planen, sprechen und schreiben zwar davon, machen dann aber sehr oft einen Rückzieher; oder aber ihre geplanten Anschläge werden von den Behörden recht schnell und einfach aufgedeckt. Warum? Weil diese Jugendlichen weder besonders indoktriniert noch entsprechend ausgebildet sind. Nur muss uns auch klar sein: Wir stehen am Anfang einer neuen Welle. 

Sie gehen davon aus, dass weitere Anschläge in Österreich geplant werden?
Es wäre naiv, das Gegenteil anzunehmen. Diese Szene von Jugendlichen, die von islamistischen Online-Influencern radikalisiert und instrumentalisiert werden, die existiert. Die werden nicht aufhören. Dass wir am Anfang stehen, ist aber auch eine gute Nachricht: Wir haben noch Zeit, etwas zu tun. Noch können wir intervenieren! Allerdings muss Österreich dringend in Prävention investieren. Wir brauchen beispielsweise – nach deutschem Vorbild – dringend geschulte Akteure in der Zivilgesellschaft, die solcherart gefährdete und gefährdende Jugendliche allezeit und in ganz Österreich auffangen können. Auch müssen Lehrer und Jugendarbeiter entsprechend aus- und weitergebildet werden, um Anzeichen von Radikalisierung auch erkennen zu können.

Beran A. hat sich radikalisiert. Wie erkennt man, ob sich jemand radikalisiert? 
Was früher im Normalfall Jahre dauerte, dauert heute nur noch Monate. Weil das Internet den Radikalisierungsprozess derart massiv intensiviert. Derart massiv beschleunigt. Der Prozess der Radikalisierung ist zwar individuell unterschiedlich, bestimmte Abläufe aber sind ident: Ein Mensch radikalisiert sich nicht von heute auf morgen. Schritt für Schritt wird seine Wahrnehmung immer extremer. Parallel dazu schottet er sich immer weiter ab, von der Familie, von Freunden, in der Schule, im Verein oder im Beruf. Diese Abschottung, dieses Zurückziehen, das merkt man allerdings. Auch das Aussehen des Betreffenden verändert sich. Trägt der Betreffende auf einmal einen Bart? Tritt er nur noch in schwarzer oder militärisch aussehender Kleidung auf? Versucht er auf einmal, Personen im näheren Umfeld zu bekehren? Spricht er nur noch über ein Thema? Die einzelne Veränderung sagt nichts, es ist die Summe der Veränderungen, die erkennen lässt, ob sich jemand radikalisiert hat.

Gilt das auch im Fall von Beran A.?
Die Nachbarn, auch Leute im Ort, haben seine Veränderung bemerkt. Sogar der Ternitzer Bürgermeister hat danach davon erzählt. Wären sie mehr sensibilisiert gewesen, dann hätten sie vielleicht den entsprechenden Anruf getätigt. In Großbritannien gibt es diese gute zivilgesellschaftliche Kampagne: ,If you see something, say something‘ – wenn du etwas siehst, sag etwas. Das sensibilisiert die Gesellschaft. Lässt die Menschen aufmerksam werden. Lässt sie begreifen. Man darf sich nicht verrückt machen. Man darf aber auch nicht ignorant sein. ,If you see something, say something.‘ Macht die Augen auf!

Vielen Dank für das Gespräch!

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