Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Und immer wieder denke ich daran“

Dezember 2023

Professor Dr. Dr. Johannes Huber (77) studierte Medizin und katholische Theologie. Er war persönlicher Sekretär von Kardinal König, und leitete später die klinische Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie sowie die gesamte Frauenklinik im Wiener AKH. Viele Jahre war er Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission und Mitglied des Obersten Sanitätsrates. Als Universitätsprofessor ist er heute emeritiert, aber immer noch in seiner Praxis für Frauenmedizin, Kinderwunsch und Hormonkosmetik tätig. Er ist auch vielfacher Buchautor. Gerald Matt traf ihn zum Gespräch.

Sie sind Gynäkologe und Theologe. Da steht Wissenschaft und Glaube nebeneinander. Das klingt nach Widerspruch. Der eine ist zuständig für das Leben vor dem Tode, der andere eher für das Leben nach dem Tode. Wie lässt sich das vereinbaren? Reiben sich da nicht berufliche Notwendigkeiten an christlich-moralischen Vorstellungen? 
Da gäbe es viele Antworten darauf. Die Medizin muss oft Menschen an das Ende ihres Lebens begleiten und da stellt sich berechtigterweise die Frage, war das jetzt alles umsonst. Was kommt? Bis zu einem gewissen Grad sorgt sich der Arzt nicht nur um den Körper, sondern auch um die Seele, ist Medizin auch Seelsorge. Im Übrigen zeigt uns die moderne Physik, dass die Trennung zwischen Diesseits und Jenseits wahrscheinlich nur eine Vorstellung unseres Gehirns ist. In seinem letzten Brief, den Albert Einstein an die Angehörigen seines besten Freundes Besso geschrieben hat, der einen Monat vor ihm gestorben ist, schreibt er: „Jetzt ist auch mein Freund mir vorausgegangen aus dieser sonderbaren Welt.“ Aber eigentlich ist es gar nicht so sonderbar, denn die Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist nur ein Konstrukt unseres Gehirns. Daraus könnte man mit Recht schließen: Die Zeit, die gibt es nicht. Sie vergeht zwar sehr schnell, aber in Wirklichkeit gibt es sie gar nicht. 

Das heißt, Sie haben nie an diesem offenkundig vielleicht nicht so großen Widerspruch gelitten? 
Körper und Psyche, Wissenschaft und Glaube sind für mich keine Widersprüche. Wenn Sie sich die großen Wissenschaftler anschauen, auch die Physiker der Neuzeit, Leibniz, Kepler, Kopernikus, Newton, sie waren zutiefst religiös und haben sich bemüht, den Schöpfungsgedanken zu durchschauen. Und dann, erst im 19. Jahrhundert, ist der Neodarwinismus erschienen, die Neuinterpretation Newtons, wo man mehr oder weniger versucht hat, einen Weltenbaumeister zu verneinen. Aber auch Darwin war eigentlich ein Pastorensohn und Lamarckist. Er wollte nicht die Zufälligkeit der Schöpfung demonstrieren. 

Erinnern Sie sich an Situation als Arzt, in denen sozusagen Glaube und Hoffnung überraschend geholfen haben? 
Lassen sie mich ein berühmtes Beispiel von einem führenden Onkologen Amerikas nennen, das er in seine Memoiren beschrieben hat. Er berichtet, dass er als Oberarzt Dienst hatte und von seiner Assistentin in den OP gerufen wurde. Sie machte gerade eine Appendektomie, also eine Entfernung des Blinddarms. Während er ihre Arbeit kontrollierte, stellte der Anästhesist fest, der Patient sei vor 20 Jahren schon einmal da gewesen, mit einem Pankreaskarzinom. Eines der wirklich furchtbarsten Dinge. Und damals hatte man den Bauch aufgemacht und gleich wieder zugemacht, und er sei entlassen worden. Und eigentlich hätte man nicht damit gerechnet, dass er lebendig wiederkommt. Der Autor erzählt auch, dass der Patient während seines ersten Aufenthaltes mit dem Pankreaskarzinom eine Krankenschwester kennengelernt und sich in sie verliebt hat. Aber: Natürlich kann man nicht sagen, eine Krankenschwester sei eine Therapie für das Pankreaskarzinom.

Aber vielleicht die Liebe. 
Liebe ist wohl auch eine Form von Hoffnung. Das soll uns alle natürlich nicht abhalten, auch die Schulmedizin in Anspruch zu nehmen. Allerdings gilt, was Schiller gesagt hat: Es ist der Geist, der unseren Körper formt.

Sie waren einer der zwei persönlichen Sekretäre von Kardinal König. Das ist eigentlich ein Karrierejob in der Kirche, nicht? 
Richtig.

Sie könnten heute Kardinal sein. 
Das ist richtig. Vielleicht wäre ich das als Geistlicher auch geworden.

Warum haben Sie die kirchliche Karriere dann ausgeschlagen? 
Das hatte ich auch nicht vor. Ich bin ja auch deswegen zum Kardinal König gerufen worden, weil er Laien und keine Priester mehr für diesen Job wollte. Die sollten in der Seelsorge sein.

Kardinal König war ja eine faszinierende Persönlichkeit. 
Er war erstens sehr tolerant und zweitens extrem vernünftig und kam auch aus bäuerlichen Verhältnissen. Und man soll das nicht unterschätzen, wie das Beobachten der Natur, der Bezug zur Natur, wie einen das prägt. Und er war daher auch sehr interessiert an der Naturwissenschaft. 

Eine spannende Zeit für Sie.
Es war für mich eine Schule. Sie müssen sich vorstellen, ich komme aus kleinen Verhältnissen. Und dann plötzlich fahre ich mit ihm zu den Kennedys oder sitze mit dem Herausgeber der „New York Times“ an einem Tisch.

Welche Eigenschaft braucht ein guter Arzt? Ich denke da an die heutigen Auswahlverfahren wie Multiple-Choice Tests, um überhaupt für das Medizinstudium zugelassen zu werden.
Da erzähle ich Ihnen eine Anekdote. Der Bundeskanzler Kreisky ist immer um den Jahreswechsel zu Kardinal König gekommen, um ihm seine Aufwartung zu machen. Und meine Aufgabe war es einige Jahre, ihn in der Wollzeile zu erwarten. Und dann, eines Tages, bleibt der Bruno Kreisky auf dieser schönen Renaissancetreppe, die zum Kardinal hinaufgeht stehen und fragt: ‚Junger Freund, was wollen Sie einmal werden?‘ Und ich habe geantwortet: ‚Ich werde Mediziner. ‘ Dann hat er tief Luft geholt und hat gesagt: ‚Wenn Sie Mediziner werden wollen, dann gebe ich Ihnen einen guten Rat.‘ Dann hat er wieder 20 Sekunden Sendepause eingelegt. Und dann sagte er: ,Da müssen Sie – und das qualifiziert den Mediziner –, das Gleiche machen, was einen Politiker zum guten Politiker macht.‘ Und dann war wieder 20 Sekunden Sendepause. Und dann hat er gesagt: ‚Sie müssen die Menschen lieben. Das macht einen Politiker zum guten Politiker und den Arzt zum guten Arzt.‘ Und ich muss Ihnen gestehen, immer wieder denke ich daran. 

Wie wirken sich Gesellschaft, Lebensumstände, Sozialisation auf die Gene aus? Ich frage es deswegen, weil Sie in einem Text auch von einem Leben vor der Geburt schreiben. Kann es sein, dass durch Vorgenerationen, durch deren Lebenswelten, Lebensumstände auch die Gesundheit einer Nachfolgegeneration mit beeinflusst wird? 
Das ist genau auf den Punkt getroffen. Das geht über die sogenannte micro-RNA. Das sind kleine RNA-Stücke, die im Sperma und in der Eizelle enthalten sind. Und die beeinflussen dann viele unserer Körperfunktionen. Wenn die DNA abgeschrieben wird, wird sie zunächst in eine RNA abgeschrieben und die wird dann in Proteine umgesetzt. Und dann bleibt die RNA übrig. Der Körper zerschneidet sie in kleine Stücke und macht daraus Regulationsbefehle. Und diese RNA-Stücke bleiben im Sperma oder in der Eizelle und sind an der Regulation des Genoms beteiligt und tragen natürlich gewisse Dinge, die der Vater oder die Mutter vor der Zeugung erlebt haben, weiter in das Kind hinein, zum Beispiel Übergewichtigkeit, Diabetes, Hyperlipidämie. Das wird auch in den Spermien gespeichert. Und darum heißt es ja, Väter, lebt gesund, bevor ihr das große Werk der Fortpflanzung macht, denn das Kind bekommt unabhängig von den Genen euer Leben mit. Das ist die Mikro-RNA. Und dann gibt es natürlich den epigenetischen Code auch noch. 

Sie waren Vorsitzender der Bioethikkommission. Und da geht es auch um die Frage, inwieweit der Mensch quasi in den göttlichen Plan eingreifen darf? Epigenetik ist ja in Mode jetzt. Das geht so weit, dass man ins Genom eingreifen will. So werden im Silicon Valley Experimente gemacht, das Altern zu stoppen. Inwieweit ist das noch zu legitimieren, muss man da nicht Grenzen ziehen?
Das ist auch differenziert zu sehen. Auf der einen Seite ist der Auftrag schon in der Genesis: Macht euch die Erde untertan? Also, macht etwas.

Macht, was ihr könnt.
Macht, was ihr könnt.

Und da gibt es keine Grenzen. 
Tubal-Kain, der erste Schmied in der Weltgeschichte, hat das Feuer zum ersten Mal nicht dafür verwendet, dass man die Nahrung besser kochen kann, sondern hat es verwendet, um die Welt zu verändern. Er war der erste Pyromechaniker, könnte man sagen. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite: quidquid agis, was immer du machst, respice finem, bedenke das Ende.

In Ihrem Buch ,Es existiert‘ schreiben Sie vom Homo sapiens sapiens, ein sehr optimistischer Zugang. Im Laufe der Evolution würde nicht nur der Kopf größer, sondern der Mensch würde auch klüger und die Welt wird dadurch besser. Aber wenn ich mir weltweit die Kriege, die Gewalt, den Egoismus, den Rassismus, dem wir überall begegnen, vor Augen führe, scheint sich mit der Größe des Kopfes kaum etwas zum Guten zu verändern. 
Ich neige da natürlich eher zum Optimismus. Und es ist nicht unberechtigt, optimistisch zu sein. Wenn man sich Wien um 1900 anschaut, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, die Intellektuellen und Künstler, die haben den Krieg förmlich herbeigesehnt. Heute wäre das völlig unmöglich. Heute begeistert der Krieg bei uns Gott sei Dank nicht mehr. Und wenn man sich auch überlegt, wie viele Kinder heute schon geimpft sind auf der Welt, wie sie Zugang zu Bildung haben, wie Frauen endlich ihre Rechte erhalten, da ist wahnsinnig viel passiert in den vergangenen 100 Jahren, vielleicht gibt es doch eine Evolution zum Besseren.

Sie haben auch neulich ein Buch herausgebracht, das heißt ‚Die Himmelsleiter‘. Der wahre Sinn unseres Lebens auf Erden. Ist Ihr Glaube eigentlich mit den Jahren stärker geworden? Ist es so, dass je älter man wird, der Glauben intensiver wird?
Ja, das ist ja schon biologisch vorgegeben. Während die Lebensmitte sich vor allem um die Reproduktion, mit dem Testosteron und mit dem Östrogen beschäftigen, wird das mit zunehmendem Alter weniger. Da denkt man dann natürlich intensiver an die letzten Dinge, wird hellhöriger und sensibler. 

Sie sind mittlerweile, das darf ich, glaube ich sagen, über 70. Sie sehen blendend aus und sind noch voll im Berufsleben und aktiv. Ihre drei Anti-Aging-Regeln lauten: Weniger essen, Bewegung und Meditation. Machen Sie das alles? 
Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Auch für mich. Eigentlich bin ich Peripatetiker, denn die besten Ideen kommen beim Gehen. Das ist gesund und meditativ.

Abschließend: Stirbt ein gläubiger Mensch leichter?
Ja, glaube ich schon. Das habe ich auch bei meinen Patienten beeindruckend erlebt.

Gibt es eine Frage oder ein Thema, das Sie momentan stark beschäftigt?
In Kürze wird ein Buch von mir zum Geheimnis Mann und Frau erscheinen.

Das klingt spannend.
Biologische Unterschiede werden ja immer mehr in Frage gestellt, das Geschlecht als soziale Konstruktion dargestellt. Inzwischen soll sogar die Literatur im Sinne des Genderismus und der Identitätspolitik zensuriert werden. So wurde ernsthaft gefordert, in einem Buch von Roald Dahl die Begriffe Vater und Mutter durch Eltern auszutauschen. Kritiker der Geschlechtsauflösung werden wokistisch bekämpft und gemobbt. Die Ablehnung der biologischen Geschlechterdifferenz ist wieder ein Beispiel, wie eine ignorante Minorität majorisiert. Da soll auch das Wort Muttermilch durch Menschenmilch ersetzt werden. In Österreich hat man auf Betreiben des grünen Gesundheitsministers den Mutter-Kind-Pass in Elternpass umbenannt, obwohl der Mann mit keiner einzigen Untersuchung im Mutter-Kind-Pass vorkommt. Man möchte den Begriff Mutter im irren Glauben, dass Sprache die Wirklichkeit, in dem Falle das Geschlecht, verändern könne, am liebsten eliminieren. Aber Unsinn bleibt Unsinn, auch wenn ihn noch so viele Halbgebildete nachblöken.

Herr Professor, vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.