Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Ästhet und Abenteurer

Juni 2025

Gerald A. Matt erzählt von seiner Begegnung mit Gabriele D’Annunzio und seinem Vittoriale.

Ostern verbrachte ich heuer am westlichen Ufer des Gardasees, in Gardone Riviera bei Salo, im altehrwürdigen Hotel Savoy Palace. Die Gästeliste des 1906 erbauten und direkt am See gelegenen Hotels kündet von Glamour und Dolce Vita vergangener Zeiten. Der italienische König samt Hofstaat pflegte hier zu urlauben, Josephine Baker sorgte für frivole musikalische Unterhaltung und der ägyptische König Faruk versüßte sich sein Exil mit opulenten Gelagen im Savoy.
Ein Freund des Hotels war auch der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio (1863-1938), Abenteurer, Flieger, Soldat, Exzentriker, Dandy, Frauen- und Kriegsheld und Politiker, der oben am Berghang unweit des Hotels seinen Lebenstraum, sein privates Refugium, verwirklichte, das heute noch unter den von ihm gewählten Namen „Il Vittoriale degli Italiani“ bekannt ist. Während der Bauzeit des „Vittoriale“ feierte er und seine illustren Gäste im Savoy, mit dessen Eigentümer er eng befreundet war, rauschende Feste.
Das Areal um die ehemalige Villa D’Annunzios umfasst neun Hektar. Es besteht aus mehreren Gebäuden, einer Freilichtarena, aus Gärten, Parks, Plätzen, Brunnen, Bächen und kleinen Wasserfällen und ist heute als Museumskomplex für Besucher zugänglich. Gestaltet wurde das Anwesen nach den Visionen des Poeten ab 1921 vom Architekten Giancarlo Maroni. Im gleichen Jahr hatte D’Annunzio die ehemalige Villa des Kunsthistorikers Henry Thode erworben.
Das „Vittoriale“ spiegelt D’Annunzios Werk und Leben wider. Die Anlage ist die bauliche Realisierung seines „Hangs zum Gesamtkunstwerk“, die Musealisierung seines Lebens zwischen Kunst und Politik, Ästhetik und Macht, Poesie und Gewalt. 
So ließ er in den Gärten des Vittoriale die Relikte seiner Kriegsabenteuer ausstellen: Das Flugzeug des Typs Ansaldo, Teil des Geschwaders, mit dem D’Annunzio als Bomberkommandant gegen Ende des Ersten Weltkriegs einen waghalsigen, Habsburgs Militärführung blamierenden Propagandaflug über Wien unternahm. Ganz Poet warf er statt Bomben Flugblätter auf Wiens Innenstadt ab, die mit den Farben der italienischen Fahne bedruckt und mit dem Text „Das Drohen der Schwingen des jungen italienischen Adlers gleicht nicht der finsteren Bronze im morgendlichen Licht … Viva l’Italia“ versehen waren. 
Das Torpedoboot MAS, mit dem er Februar 1918 ein Kommandounternehmen gegen den Marinehafen Buccari der K&K Monarchie durchführte, ließ er in einer eigenen Halle unterbringen. An ihrer Außenwand ist das Motto „Memento audere semper“ („Denke daran, immer zu wagen“) zu lesen. Und waghalsig war der Dichter, der wie seine futuristischen Freunde den Krieg als künstlerisch-poetische Aktion und existentielle Erfahrung verstand, und Nietzsche und Schopenhauer verehrte. 
D’Annunzio hatte bei einem seiner Flüge das Licht eines Auges verloren und trug eine Augenbinde, die ihm nicht nur Heldenstatus, sondern auch das Frauen imponierende Aussehen eines Haudegens verlieh. 
Im September 1919 besetzte er mit seinen Getreuen, die den Dichter verehrenden „arditi“, Fiume (heute Rijeka), das im Grenzvertrag von Rapallo den Status eines unabhängigen Freistaats erhalten hatte, und rief dort seine „Republik Quarnero“ aus.
15 Monate lang feierte der „Commandante“, wie ihn seine Anhänger nannten, an der Spitze der Stadt seine Vision eines Idealstaates, indem man – wie er erklärte – „bürgerliche Tugend und Sparsamkeit, Familie, Religion, Monarchie und Republik“ beiseite gewischt habe, um „in einer Art heroischer Orgie“ voller Leidenschaft das schöne Hier und Jetzt zu feiern. Der Historiker Kersten Knipp spricht in seinem Werk „Die Kommune der Faschisten“ von einer Generalprobe der faschistischen Choreografie. 
Zu D’Annunzios „Quarnero“ gehörten schöne Uniformen, Reden von Balkonen, Aufmärsche ebenso wie Musik, Partys, Frauen, freie Liebe, Drogen („Kokain fiel wie Schnee auf das Abendmahl“) viel Pathos und eine Verfassung, nach der die Presse frei war, Frauen wählen durften, Drogenkonsum und Homosexualität straffrei waren und jedem Bürger eine freie medizinische Versorgung und ein Grundeinkommen zustanden.
In Erinnerung an seine Kämpfe um ein italienisches Istrien ließ er das Vorschiff seiner „Puglia“ im Abhang des Areals mit großartigem Blick auf den See installieren. Nicht fehlen durfte für den Dramatiker, der Stücke für seine berühmteste Geliebte, die Starschauspielerin Eleonore Duse schrieb, ein Freilufttheater, das dem römischen Amphitheater von Pompeji nachempfunden wurde. D’Annunzios Ambition, italienischer Regierungschef zu werden, scheiterte an Mussolini, der ihm mit seinem Putsch und Marsch auf Rom den Kürzeren ziehen ließ. D’Annunzio zog sich ins „Vittoriale“ zurück, ließ sich seinen ausschweifenden und kostspieligen Lebenswandel als italienischer Nationaldichter finanzieren und vom König einen Adelstitel. 
Später beleidigte er Mussolini, indem er ihn bei einem Besuch im Vittoriale enervierend lange auf das Ende seiner aufwendigen „Toilette“ warten ließ. Auch warnte er vor dem Faschismus, den er zunehmend als vulgär empfand, mit den Worten, es werde „der Tag kommen, an dem sie Bücher verbrennen“.
Im Areal und seiner Villa, der „Prioria“, mit ihren unzähligen im Stile des Art Deco und des Fin de Siècle eingerichteten Räumen, darunter sein „Reliquienzimmer“ und seiner tausende Bücher umfassende Bibliothek, sind die Spuren des bewegten Lebens D’Annunzios omnipräsent. Von einem zerbrochenen Lenkrad eines der Rennwagen des Geschwindigkeitsfanatikers bis zu einer Statue des von ihm verehrten Heiligen Sebastian künden zahllose Devotionalien von einem Leben voller Exzentrik und Abenteuern. Die „Prioria“ blieb bis zu seinem Tod der Wohnsitz D‘Annunzios.
Im Areal befindet sich auch ein Museum, in dem Teile seiner immensen eleganten Garderobe, seine maßgefertigten Hemden, Schuhe, Anzüge, Hüte, Handschuhe, Krawatten und Gehstöcke sowie Kleidungsstücke und Schmuck seiner Frauen vom Leben eines Ästheten und Lebemannes zeugen. 
Einen Höhepunkt eines Besuches bildet der Anblick des von Maroni 1939 im Stile etruskisch römischer Grabstätten errichteten und über dem Areal thronenden Mausoleums. Mit drei konzentrischen, übereinanderliegenden Steinrampen vereint das düstere Betonkonstrukt Motive aus Dante Alighieris Göttlicher Komödie, den Sieg, der den Künstlern und Helden gilt. Die sterblichen Überreste der zwölf wichtigsten Kampfgenossen D’Annunzios, der „Helden von Fiume“, ruhen in auf Säulen aufgestellten Sarkophagen. Den sie überragenden, auf vier Säulen in der Mitte der obersten Plattform aufgestellten Sarkophag D’Annunzios, der noch nach seinem Tode die Position des Anführers einnimmt.
Nach dem Besuch des Vittoriale bestellte ich auf der Terrasse des Savoy einen Campari Soda und widmete mich der Lektüre von D’Annunzios Chef d’oeuvre, dem Roman „Il piacere “, „Die Lust“, ein Buch, das seinerzeit von James Joyce hochgelobt wurde, eine psychologisch hochinteressante Geschichte, eine Reise in die Welt des Verlangens, der Leidenschaften, der Begierde und der Sucht nach Lust und Liebe.
Es war niemand Geringerer als der Schriftsteller und Kommunist Bertold Brecht, der den radikalen Ästhetizisten D’Annunzio gegenüber moralisierendem Kleingeist in Schutz nahm: „Es ist mir unmöglich, ihn in der Nachbarschaft der Werfel, Hecht, Odets verächtlich nennen zu hören ... Er eroberte Fiume, die Duse und das Besitztum am Gardasee, nicht einen Filmkredit. Er war ein Scharlatan, aber dieser Scharlatan schrieb Hirtengedichte, die kaum untergehen werden ... Auch seine Provokationen könnte man, mit Opusnummern versehen, herausgeben. Seine Eitelkeit ist der Selbstgefälligkeit Hollywoods turmhoch überlegen, so ist es sein Geschmack und sein ganzer Lebensstil, der immerhin nicht nur der Arbeit, sondern auch der Ausschweifung etwas Produktives verleiht, und er schlägt sie auch, was ihnen am meisten imponieren muss, durch seine Einnahmen …“
„Vielleicht besteht die Kunst des Lebens im Verdunkeln der Wahrheit“, lese ich auf den ersten Seiten von „Il piacere“, diesem wundersamen Porträt eines jungen Künstlers und seiner amourösen und moralischen Verwerfungen, bevor ich den ersten Schluck von meinem Campari zu mir nehme.

 

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