Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Zum Wachsen der Kinder gehört das Schrumpfen der Eltern“

Februar 2023

Reinhard K. Sprenger (69), der wohl profilierteste Führungsexperte Deutschlands, hat ein Buch zum Thema Kindererziehung geschrieben. Dort sagt Sprenger, es sei eine Erziehung vorzuziehen, die Abstand nehme von der heute vorherrschenden Optimierungsmentalität. Der Vater von vier Kindern rät: „Nicht das Beste für das Kind suchen, sondern das Passende finden.“ 

Herr Sprenger, starten wir mit einem Zitat aus Ihrem aktuellen Buch. Sie schreiben: „Immer öfter ist der Umgang mit den Kindern nicht getragen von Gegenwart, Leichtigkeit und Humor, sondern von Zukunftsschwere“ …
Eltern sorgen sich bisweilen so sehr, dass sie vor lauter Sorge fast krank werden. Sie genießen nicht die Gegenwart ihrer Kinder, sondern werfen sich immerfort in die Zukunft, für die sie das Kind vorbereiten wollen. Obwohl heute niemand mehr weiß, wie diese Zukunft aussehen wird. Und sie wollen es als Eltern nicht nur gut machen, sondern sind bitterernst bemüht, es sogar perfekt zu machen. Mit traurigen Nebeneffekten: Sie bringen das Kind um seine Kindheit. Und sich selbst um wunderbare Elternjahre. 

Sorgen sich Eltern denn heute über Gebühr? Im Gegensatz zu früheren Zeiten?
Zweifellos. Die Zahl der Kinder pro Haushalt sinkt in Mitteleuropa beständig. Dadurch ist ein Kind gleichsam „wertvoller“ als früher. Zudem bekommen Menschen in unseren Breitengraden immer später ein Kind. Und ältere Eltern sind ängstlicher. Sie wittern überall Gefahren. Sie verhalten sich entsprechend überfürsorglich. Diese Eltern halten ihre Kinder für fragil-emotionale Wesen, denen man alles Negative ersparen muss. Aber nichts verhindert die Entwicklung von Selbstvertrauen so sehr wie ständige elterliche Sorge und Kontrolle. Dann leidet das Kind an „Misserfolgsarmut“. Auf einen Normalmenschen kommt jedoch in einem durchschnittlichen Leben eine hohe Enttäuschungslast zu. Das Kind muss deshalb lernen, mit den Schattenseiten des Lebens umzugehen, weil es für sein seelisches Gleichgewicht als Erwachsener unglaublich wichtig ist. Wenn wir also wollen, dass unsere Kinder auch auf harte Wegstrecken vorbereitet sind, dann sollten wir unseren Kindern eine weit höhere Widerstandskraft zubilligen, als eine schutzhysterische Gegenwart einräumen will.

Ein herrlicher Satz: „Infolge der Verherrlichung durch die Eltern entwickeln die kleinen Prinzen und Prinzessinnen nicht selten ein Anspruchsdenken, das despotische Züge trägt.“
Im Grunde können wir es unseren Kindern nicht verübeln – Stichwort „Generation Z“ – dass sie nicht nur als Kleinkind, sondern auch später noch alles jetzt, hier und sofort wollen. Sie sind es gewohnt, dass sich alles um sie und ihre Bedürfnisse dreht. Umso gravierender werden später die Probleme, sich in einem Umfeld zurechtzufinden, das dieses Maß an Selbstbestimmung nicht akzeptiert. Wo es um Zusammenarbeit, um das Einfügen in eine Gemeinschaft geht. Deshalb ist es falsch, das vermeintliche Kindesinteresse vor die Sozialinteressen zu stellen. 

Sie stellen da ja sarkastisch fest: „Das Kind, der Hausgott“ …
Wir können geradezu von einer Sakralisierung des Kindes sprechen. Die natürliche Ordnung von Eltern und Kind hat sich um 180 Grad gedreht: Heute stehen die Eltern unten und blicken hin­auf zum Kind. Und Eltern opfern ihre eigenen Bedürfnisse als Paar und als Individuen nicht selten bis zu Selbstaufgabe. Sie verlieren sich selbst völlig aus den Augen. Ein hoher Preis, wenn man bedenkt, dass Kinder kommen und Kinder gehen, Eltern aber bleiben. 

Sie konstatieren auch, Eltern seien oft geradezu hypnotisiert von den Defiziten ihres Kindes, nicht von dessen Ressourcen. Welche Folgen hat das?
Viele Familien sind heute Trainingslager für kindlichen Steigerungsstress. Freizeit wird immer mehr zur Förderzeit. Keine Begabung soll brachliegen, kein Potenzial ungehoben bleiben. Vor allem Mittelschicht-Eltern beschleicht sofort ein Gefühl des Defizits, wenn das Kind nicht täglich mindestens ein Förderangebot wahrnimmt. Das Ergebnis sind förderungsverbeulte Kinder. Wir sollten uns fragen, ob wir aus einem normalen Kind unbedingt ein außergewöhnliches machen wollen. Ob wir unser Kind messen an Idealen, die allgemein als erstrebenswert gelten, und nicht an dem, was der Neigung des speziellen Kindes entspricht. Viele Eltern verzichten dann auf das, was möglich ist, weil sie etwas wollen, was unmöglich ist. Darum geht es: Nicht das Beste für unser Kind suchen, sondern das Passende finden. Sonst fördert man das Kind von sich weg. 

Sie sagen, die gute, die richtige Erziehung sei eine, die Abstand nehme von der heute vorherrschenden Steigerungsmentalität. Also: Weniger ist mehr? Muss das die Devise sein?
Wir machen als Eltern nur dann viel falsch, wenn wir zu viel richtig machen wollen. Deshalb ist eine Erziehung vorzuziehen, die sich auf wenige Aufgaben beschränkt. Sie nimmt Abstand von der heute vorherrschenden Optimierungsmentalität. Weil ein Kind später umso erfolgreicher wird, je nebensächlicher es aufwächst. Und weil so die Chance besteht, dass Eltern die Elternjahre auch als Paar überstehen. Deshalb werbe ich dafür, dass wir uns entspannen, weil eine zurückhaltende Erziehung das Richtige ist. Für das Kind. Vor allem aber für uns Eltern. Zum Wachsen der Kinder gehört das Schrumpfen der Eltern.
Sie fordern das mit Blick auf das Elternwohl. Elternwohl?
Elternwohl ist die Voraussetzung für das Kindeswohl. Die meisten Erziehungsratgeber blicken jedoch starr auf das Kind. Die Eltern fallen gleichsam aus der Optik. Vor lauter Kindeswohl wird vergessen, dass es auch ein Elternwohl gibt. Das scheint mir ein Grund dafür zu sein, dass die Konzepte oft zu kurz greifen. Wir sind besser beraten, wenn wir auf die Eltern schauen. Und dadurch auf das Kind. 

Wobei: Eltern sind nicht die einzigen Erzieher …
Ganz im Gegenteil. Der Einfluss der Eltern wird maßlos überschätzt. Wir müssen von einem ganzen Erziehungsgeflecht ausgehen. Kindergarten, Schule, Großeltern, Geschwister, Freunde, Sporttrainer, später dann der erste Ausbildungsleiter – alle erziehen mit. Nach Meinung vieler Forscher ist der Einfluss von Gleichaltrigen langfristig sogar bedeutsamer als jener der Eltern. Wobei etliche dieser miterziehenden Einflüsse gar nicht die Absicht haben, das Kind zu erziehen. Sie prägen es dennoch. Nicht zu vergessen die Gene und der Zufall. 

Beleuchten wir einige Ihrer Prämissen? Etwa jene: „Verantwortliche Erziehung heißt: Klare Konfrontation im Konfliktfall!“
Je klarer Eltern sind, desto leichter fällt es Kindern, Gebote oder Erfordernisse zu akzeptieren. Wenn unsere innere Haltung klar ist, spürt es das Kind. Es versteht die kleinen Signale der Entschiedenheit. Aber ebenso die Unentschiedenheit. Im Konfliktfall dürfen wir nicht die Faust in der Tasche machen. Das ist die unintelligenteste Art, ein Leben zu leben. Es ist falsch, eine Situation auszusitzen, wenn sie für uns nicht in Ordnung ist. Wir dürfen einem Kind niemals so viel Macht über uns geben, dass wir es aus unserer Liebe fallen lassen. Das gilt auch und vor allem für die Phase der Pubertät. 

Oder diese Prämisse: „Wir müssen dem Kind die Möglichkeit zur Rebellion geben, um Widerstandskraft aufzubauen.“ Der Satz wird manche schrecken …
Grenzen haben nicht nur die Funktion, das Kind im Zaum zu halten. Vielmehr ertüchtigen sie das Kind im Anrennen gegen alles, was seinen Freiheitsdrang einschränkt. Das Kind ist ja im Grunde ein Freiheitswesen, es will nicht fremdbestimmt sein. Und das ist auch gut so! Später im Berufsleben wird man dem Nicht-mehr-Kind unablässig zurufen: „Get out of your box!“, „Überwinde deine Grenzen!“, das Gebot der Stunde sei „Musterbruch!“, das Neue komme in die Welt nur durch kreative „Disruption“. Tatsächlich erfolgreich werden jene, die tun, was andere nicht tun, sehen, was andere nicht sehen, denken, was andere nicht denken. Das ist nicht möglich ohne eine gewisse rebellische Neigung. Es ist also völlig in Ordnung, wenn das Kind versucht, Regeln außer Kraft zu setzen oder Grenzen zu umgehen. Darüber dürfen wir nicht böse werden. Wir müssen dem Kind die Möglichkeit zur Rebellion geben, um Widerstandskraft und Selbstbewusstsein aufzubauen. Indem wir den Respekt vor Regeln und Grenzen fordern, ist das zum Besten des Kindes, fördern wir es. Und wir Eltern müssen damit klarkommen, dafür von unserem Kind abgelehnt zu werden. 

Man brauche in der Erziehung einen Mittelweg, der sich der Sachlage anpasse. Soll heißen?
Unser ganzes Leben steckt voller Dilemmata, voller Widersprüche. Auch Erziehung ist immer Arbeit durch den Zweifel. Und sie setzt grundsätzlich den Entzug von Freiheit voraus. Erziehung ist Konversion, also Umwandlung, Umwendung, Umkehrung. Wir müssen also wieder in Liebe ein Dilemma entscheiden. Insbesondere, wenn wir unser Kind zu einem selbstverantwortlichen Menschen erziehen wollen, zu einem Freiheitswesen. Deshalb müssen wir mal eingreifen, mal uns bewusst zurücknehmen, mal unterstützen, mal Grenzen setzen, mal konsequent sein, mal Ausnahmen zulassen. Diskutieren ist berechtigt, und Anweisen ist berechtigt, es kommt auf die Situation an.

Warnen Sie auch deshalb davor, Kinder über Gebühr zu loben? Pauschal den „kleinen Hausgott“ zu loben?
Ach, das Loben! Wir sollten auch da zurückhaltend sein. Es kommt auf das Maß an. Oft gelobte Kinder werden egozentrisch, fordern dauernd Aufmerksamkeit. Grundsätzlich aber gilt: Wer sein Kind lobt, lehrt es, Dinge wegen der Anerkennung anderer zu tun. Dann stehen die Tore sperrangelweit offen für Fremdsteuerung. Einige Forscher schließen nicht aus, dass die Neigung zur Depression größer wird, wenn das Lob später spärlicher oder gar ganz ausfällt. Wie auch soll ein mit Lob überschüttetes Kind seine Fähigkeit realistisch einschätzen? Wie soll es sich später eingliedern in eine Gemeinschaft, egal ob in der Schule oder am Arbeitsplatz? Wenn wir Zeit mit dem Kind verbringen, aufmerksam sind, zugewandt, dann fällt in der Regel die Sehnsucht nach Lob aus. 

Geht es also darum, Kinder möglichst gut auf die Unwägbarkeiten des Lebens vorbereiten? Und zugleich schöne Elternjahre zu erleben?
Ein Kind, das man „verwöhnt“ nennt, hat viel bekommen von dem, worauf es gerade Lust hatte – aber wenig von dem, was es wirklich nötig gehabt hätte: Verantwortung zu übernehmen, auch für die eigene Langeweile, auch für die unliebsamen Verrichtungen, die das Leben bisweilen im Übermaß fordert. Es ist mithin unsere Pflicht, in den Elternjahren unserem Kind das Rüstzeug für schwierige Zeiten mitzugeben. Noch wichtiger aber scheint mir, dass Erziehung nur gelingt, wenn die Partnerschaft stimmt. Das Motto muss lauten: Erst der Partner, dann die Kinder. Jedes Kind hat ein Recht auf glückliche Eltern! 

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Reinhard K. Sprenger 
* 1953 in Essen, hat Philosophie, Psychologie, Geschichte, Betriebswirtschaft und Sport studiert. Der Autor mehrerer Bestseller gilt als Deutschlands profiliertester Managementberater. Sprenger ist verheiratet und Vater von vier Kindern, er lebt wechsel­weise in Winterthur, Schweiz und in New Mexico, USA.

Über das Buch
Mit über 1,8 Millionen verkauften Büchern gelten Sie als der profilierteste Führungsexperte Deutschlands. Jetzt veröffentlichen Sie ein Buch zum Thema Kindererziehung. Wie kam es dazu?
„In der Managementberatung vertrete ich seit jeher die Auffassung, dass wir im Unternehmen keinen Erziehungsauftrag haben. Dass wir im Mitarbeiter einen Menschen sehen müssen, dem wir Erwachsensein zutrauen müssen. Zu meiner Überraschung äußerten dennoch viele Manager den Wunsch, ich solle doch mal ein Buch über Kindererziehung schreiben, es gäbe da doch viele Parallelen. Überdies kämen sie mit den Mitarbeitern oder dem Aufsichtsrat gut zurecht, aber mit der Tochter sei es furchtbar. So sammelte ich über 30 Jahre Gedanken zur Praxis der Kindererziehung. Neben meiner Erfahrung als Vater von vier Kindern. In der Pandemie fand ich dann Zeit, sie zu sichten und zu einem Buch zu formen.“

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