Simon Meusburger

Regisseur, Direktor Schubert Theater Wien

Es war einmal in Europa

November 2015

Vor 200 Jahren flüchteten in Europa hunderttausende Menschen vor der durch den Industriekapitalismus immer größer werdenden Armut in die Städte, wo sie oft ein noch größeres Elend erwartete. Hänsel und Gretel (Urfassung der Gebrüder Grimm 1812) erzählt die Geschichte zweier Kinder, die von den hungernden Eltern als Überlebensmaßnahme für beide Seiten im Wald ausgesetzt werden – sie sind Wirtschaftsflüchtlinge.

100 Jahre später: Der Erste Weltkrieg geht zu Ende. Die Mutter im Märchen ist in einer erweiterten Fassung zur Stiefmutter gemacht worden, um die Grausamkeit der Tat etwas zu entschärfen. In der Realität aber sind es wieder tausende Mütter, die ihre Kinder – oft nur notdürftig in Zeitungspapier eingewickelt – aus Verzweiflung aussetzen.
Heute: Weltweit sind Millionen Menschen auf der Flucht; sie alle fliehen vor Verhältnissen, die wir in Zentraleuropa nur mehr aus historischen Berichten kennen. Nun ist es an der Zeit, dass Europa und die westliche Welt Verantwortung übernehmen, um ein Überleben in Regionen dieses Planeten zu ermöglichen, wo dies durch Krieg, wirtschaftliche Ausbeutung und Klimawandel unmöglich scheint.

In der letzten Fassung von Grimms Märchen stehen Hänsel und Gretel am Ende vor einer unüberwindbaren Grenze – einem See. Nur mithilfe einer Ente überqueren sie diesen. Der britische Bestsellerautor Philip Pullman schreibt dazu in seiner Interpretation der Erzählung: „Der See ist ein unüberwindbares Hindernis zwischen bedrohlichem Wald und sicherem Heim, und gegen ein Hindernis ist nichts einzuwenden, solange man sich nicht auf der falschen Seite befindet; doch auch dann lässt es sich dank einer Mischung aus Güte der Natur und menschlichem Einfallsreichtum bezwingen.“ Güte und Einfallsreichtum braucht es auch für Europa für ein Happy End.