Hans G. Zeger

Wenn der Bürger unter Generalverdacht steht

Februar 2015

Nach den Terroranschlägen von Paris wird eine Wiedereinführung der 2014 abgeschafften Vorratsdatenspeicherung diskutiert. Doch die Vorratsdatenspeicherung setzt Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit außer Kraft – ihre Wiedereinführung würde also nur dem Fundamentalismus zu einem billigen Sieg verhelfen.

Es gibt schlicht kein Szenario, das einen präventiven Generalverdacht gegen unbescholtene Bürger mit den Grundsätzen der UN-Charta für Menschenrechte oder der europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar macht. Tatsächlich ist das Recht, unbeobachtet sein Leben zu gestalten, wirtschaftlich tätig zu sein, seine Meinung zu äußern und neue Ideen zu entwickeln, nicht bloß ein relativierbares Menschenrecht, sondern notwendige Voraussetzung einer entwickelten Gesellschaft. Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, durch Versuche, Irrtum und Fehler zu neuen Erkenntnissen, neuen Entwicklungen und neuen Produkten zu kommen. Stehen alle Menschen unter Kontrolle, müssen sie fürchten, dass neue, unausgegorene Ideen missverstanden werden, dass ihr Verhalten als „verdächtig“ eingestuft wird, werden sie sich zu angepasstem Verhalten entscheiden, der Mut zu Innovationen wird verschwinden.

Jeder kann verdächtig werden

Kaum jemand macht sich Gedanken darüber, welche Interpretationen sein Telefonierverhalten auslösen kann. Wozu auch, jeder weiß genau, warum er welches Telefonat geführt hat. Der Ermittler, der den Täter anhand formaler Muster ausforschen möchte, hat einen anderen Zugang. Viele kurze Telefonate mit vielen verschiedenen, aber wiederkehrenden Telefonnummern? Ein typisches Muster von Drogendealern, die mit ihren Kunden Abholtermine vereinbaren. Mehrere lange Telefonate mit der Telefonnummer einer Zeitungsredaktion? Hinweis auf Geheimnisverrat. Viele eingehende Anrufe von immer neuen Anschlüssen beim Handy einer Frau? Verdacht der Geheimprostitution bzw. Verdacht, dass sie dazu gezwungen wird (Menschenhandel). Regelmäßig wiederkehrende Ketten von Anrufreihenfolgen? Möglicherweise organisierte Kriminalität oder eine terroristische Vereinigung mit genau definierten Informations- und Befehlsstrukturen. Regel-mäßige Anrufe bei einer Liechtensteiner oder Schweizer Bank? Verdacht auf Geldwäsche, Steuerhinterziehung großen Stils oder Terrorismusfinanzierung. Endlos ließe sich die Liste verdächtiger Telefonmuster fortsetzen.

Nichts muss zutreffen, doch der ins Visier genommene Bürger steht vor dem Problem, Handlungen rechtfertigen zu müssen, die ihm bisher nicht einmal als problematisch bewusst waren. Vom Verdacht werden früher oder später Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen, Arbeitgeber oder sogar die Öffentlichkeit erfahren. Der eigene Ruf wird unwiederbringlich beschädigt sein, auch wenn sich ein Verdacht nachträglich als unbegründet erweist.

Jedes Verhalten eines Bürgers kann verdächtig sein und auf kriminelle Vorhaben hindeuten, egal ob es sein Reiseverhalten ist, seine Finanzgebarungen, was er anzieht oder was er konsumiert. Wer zu Präventivüberwachung von Telefonie und Internet Ja sagt, muss auch zur Präventivüberwachung des Reiseverhaltens, des Straßenverkehrs, von Geldabhebungen und Finanztransaktionen, des Einkaufsverhaltens und jeder Art sozialer Kontakte Ja sagen. Auch die zentrale Speicherung all dieser Daten ist zwangsläufige Konsequenz dieser Logik. Nur auf diese Weise sind die Daten rasch genug für Analysen zur Hand. Nicht Überwachungswahn, politischer Missbrauch von Datensammlungen oder Zweckentfremdung der Daten sind das Problem. Die innere Logik eines auf totale Sicherheit orientierten Präventivdenkens führt zur totalen Kontrolle. Politik und Polizei, die Sicherheit versprechen, werden zu Getriebenen ihrer eigenen Logik.

Vom Überwachungsstaat zum Präventivstaat

Die Vorratsdatenspeicherung kehrt die Unschuldsvermutung um. Jeder Bürger muss rechnen, dass sein Internet- und Telefonierverhalten ein verdächtiges Muster aufweist, und er wird dann beweisen müssen, dass er zu Unrecht verdächtigt wird. Länder, die bisher auf rechtsstaatliche Prinzipien und den Schutz des Vertrauens der Bürger pochten, geben diese Grundsätze leichtfertig auf, ohne Aussicht, durch diese Maßnahmen tatsächlich wirkungsvolle Beiträge zur Terrorismus-bekämpfung zu leisten. Täter, also Personen, die wissen, dass sie „etwas zu verbergen“ haben, können die Überwachungsmaßnahmen leicht umgehen.

Billiger Sieg des Fundamentalismus

Ein Staat, der einer gewiss vorhandenen Bedrohung durch Terrorismus nichts anderes entgegenzusetzen hat, als alle seine Bürger unter Generalverdacht zu stellen, liefert Fundamentalisten und Terroristen einen völlig überraschenden Sieg  – ganz ohne Selbstmordanschläge, ganz ohne Risiko für die Terroristen, gefasst und verurteilt zu werden. Die vorschnelle Preisgabe grundlegender Funktionsprinzipien der Gesellschaft führt allen Fundamentalisten die Geringschätzung menschenrechtlicher Grundwerte vor Augen und bestätigt sie in der Ablehnung dieser Art „westlicher Zivilisation“. Mit der Präventivüberwachung schreckt man keine Sympathisanten ab, sondern bestätigt sie in ihrem Weg in Richtung Fundamentalismus. Die Vorratsdatenspeicherung ist Armutszeugnis und Bankrott-erklärung von Rechtsstaaten, ein billiger Sieg, den sich die Attentäter der vergangenen Jahre und ihre ideologischen Anführer nicht hätten träumen lassen.

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