J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Der sich als Kolibri tarnt

Juli 2023

Wie ein Kolibri steht das Tier im Schwirrflug über der Blüte und saugt mit seinem langen Rüssel den Nektar. „Ein Kolibri“ ist auch der naheliegende Gedanke, wenn man zum ersten Mal auf dieses Tier aufmerksam wird. Umso größer ist dann das Erstaunen, dass der flinke Schweber gar kein Vogel ist, sondern einer völlig anderen Tiergruppe zugerechnet werden muss – den Schmetterlingen.

Taubenschwänzchen wird der Falter mit seinem deutschen Populärnamen genannt. Ein zweigeteiltes Büschel verlängerter Schuppen am Ende des Hinterleibs soll an die Schwanzfedern von Tauben erinnern. Überzeugender sind da die inoffiziellen Namen Kolibrischwärmer und Kolibrifalter. Als Carl von Linné 1758 allen ihm bekannten Tieren ihren wissenschaftlichen Namen verlieh, dachte er freilich in eine andere Richtung. Die gesamte Nachtfalterfamilie der Schwärmer fasste er in einer einzigen Gattung Sphinx zusammen. Es mochte das Geheimnisvolle in der Lebensweise der Falter gewesen sein, das ihn zu dieser Benennung veranlasste, und sicher dachte er an die Körperhaltung ihrer Raupen: Bei Beunruhigung beugen viele Arten ihren Vorderkörper wie eine Sphinx nach oben. Doch schon bald zeigte sich, dass die hier vereinten Arten zu unterschiedlich sind, um sie in ein und derselben Gattung belassen zu können. Immer neue Gattungen wurden definiert, um der Vielfalt gerecht zu werden und gleichzeitig die natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen abbilden zu können. Und so änderte das Taubenschwänzchen seinen wissenschaftlichen Namen von Sphinx stellatarum zu Macroglossum stellatarum. Der neue Gattungsname Macroglossum verweist auf ein sehr auffälliges Merkmal des Tieres: Als Glossa (altgriechisch = Zunge) bezeichnet die Biologie die Gesamtheit der saugenden Mundteile der Schmetterlinge. Beim Taubenschwänzchen ist dies ein gut drei Zentimeter langer Saugrüssel, mit dem es den Nektar auch im hintersten Winkel tiefer und enger Blüten für sich erschließen kann. Der Artbeiname stellatarum wiederum bezieht sich auf die Lieblingsspeise der Raupen. Als Stellatae = Sternkräuter benannte man einst die Labkräuter der Gattung Galium (zu der auch der in der vorletzten Ausgabe beschriebene Waldmeister Galium odoratum gehört, welcher aber vom Taubenschwänzchen nur selten zur Eiablage genutzt wird).
Das ganze Jahr über anzutreffen ist das Taubenschwänzchen im Mittelmeerraum, sowohl in Afrika wie in Europa. Auch Frankreich und die Benelux-Staaten werden als ursprünglicher Lebensraum dieses wärmeliebenden Falters genannt. Aber in den Sommermonaten zieht es die Tiere nach Norden, sodass sie auch in Skandinavien bis zum Nordkap und sogar auf Island angetroffen werden können. Macroglossum stellatarum ist der einzige Vertreter aus der Familie der Schwärmer, der als erwachsenes, geschlechtsreifes Tier überwintert. Damit waren der Verbreitung im Winter bisher klare Grenzen gesetzt: Die Tiere vertragen keinen Frost. Doch die immer milderen Winter ermöglichen es den Faltern, auch in unseren Gegenden die kalte Jahreszeit in geschützten Verstecken zu überdauern. So kann man das Taubenschwänzchen in Vorarlberg mit etwas Glück das ganze Jahr über antreffen. Bereits im März legen die Überwinterer ihre Eier einzeln an Labkräutern ab. Aus ihnen schlüpft Mitte bis Ende Juni die erste neue Faltergeneration des Jahres. Frühestens Ende April stoßen dann in mehr oder minder großen Einwanderungswellen Taubenschwänzchen aus dem Mittelmeerraum zu den Überwinterern – und später zu den hier geschlüpften Tieren – und vermischen sich mit ihnen. Während in Südeuropa drei bis vier Faltergenerationen pro Jahr auftreten, ist die Zahl der Generationen nördlich der Alpen weiterhin unbekannt. Ebenso unbekannt ist das Schicksal der hier gegen Ende des Jahres geschlüpften Falter. Dass sie zurück in den Süden fliegen, konnte bislang nicht belegt werden. Und nicht jedes Tier findet ein geeignetes Winterquartier.
Die Flugleistung dieser gar nicht großen Schwärmer ist erstaunlich. Bereits der Schwirrflug und der blitzschnelle Wechsel von Blüte zu Blüte versetzt uns in Erstaunen. Wiegt sich die Pflanze im Wind, so wird dies im Flug ausgeglichen, und die Position zur Blüte bleibt immer konstant. Als Besonderheit im Insektenreich können die Tiere auch rückwärts fliegen. Noch erstaunlicher aber sind die Wanderflüge. Distanzen von 2000 bis 3000 Kilometern werden in weniger als 14 Tagen bewältigt. Dabei wählen die Falter den direkten Weg über die Alpen mit Flughöhen bis zu 2500 Meter. Die Schlagfrequenz der Flügel beträgt 70 bis 90 Schläge in der Sekunde, und die Tiere erreichen Fluggeschwindigkeiten bis zu 80 Kilometer pro Stunde. 
Aber nicht jeder Falter, der Nektar saugend über einer Blüte schwirrt, ist ein Taubenschwänzchen. In Vorarlberg gibt es zwei weitere Schwärmer-Arten, die bei flüchtigem Blick für Verwechslung sorgen. Doch Hummelschwärmer und Skabiosenschwärmer haben durchsichtige Flügel, während die Oberseite der Vorderflügel des Taubenschwänzchens unscheinbar graubraun ist. Nur im Flug werden die orangen Hinterflügel sichtbar. Die Färbung der Vorderflügel setzt sich am Körper der Falter fort. Erst gegen den Hinterkörper zeigen sich weiße und schwarze Flecken. Büschelartig verlängerte Schuppen am Hinterleibsende dienen dem präzisen Navigieren über und zwischen den Blüten. Dies sichert dem Falter letztendlich das Überleben: Die enormen Flugleistungen verlangen nach enormen Mengen an Treibstoff, und jede nektarreiche Blume, jeder nektarreiche Strauch wird von den Tieren wahllos angeflogen.
Wer einmal ein Taubenschwänzchen beobachtet hat, kann sich der Faszination dieses Flugkünstlers kaum entziehen. Und noch etwas macht diese Art zu etwas Besonderem: Obwohl wir die Tiere am helllichten Tage antreffen, zählen sie zu den Nachtfaltern!

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