
Eine Eidechse mit zwei Schwänzen
Die Natur spielt die wildesten Stückerln“ – Als ich diesen Spruch auf der Universität zum ersten Mal hörte, brauchte ich einige Zeit, bis ich seine volle Bedeutung erfasst hatte. Sollte denn die Natur nicht Gesetzmäßigkeiten folgen, die kaum eine Ausnahme zulassen? Freilich sorgen Mutationen und Fehler im genetischen Code für das Entstehen neuer Arten. Aber bereits damals war das Konzept der sprunghaften Veränderungen Geschichte, und die Evolution wurde als langsamer Prozess in kleinen Schritten erkannt. Erst im Laufe des Studiums lernte ich: „Rechne immer mit dem Unvorhergesehenen, mit Phänomenen, die nicht im Lehrbuch stehen“. Und natürlich verlangt alles, was aus der Norm fällt, nach einer schlüssigen Erklärung.
Als das Foto einer Eidechse mit zwei Schwänzen in der inatura eintraf, war ich daher nicht wirklich überrascht. Zwar hatte ich Vergleichbares noch nie gesehen, aber ich fühlte mich an die Naturmuseen früherer Zeiten erinnert, die mit doppelköpfigen Rehen und ähnlichen zur Schau gestellten Missbildungen eher Kuriositäten-, oder besser Gruselkabinetten ähnelten. Und wieder musste eine Erklärung für dieses außergewöhnliche Tier gefunden werden, denn unter die mir bekannten Monstrositäten ließ sich diese Eidechse nicht einordnen.
Die Frage nach der Art war schnell geklärt: Am Fundort lebt seit längerem eine Kolonie von Mauereidechsen (Podarcis muralis). Diese Art zählt nicht zu den heimischen Tieren. Sie wurde vielleicht unbewusst nach Vorarlberg verschleppt, vielleicht sogar bewusst hier ausgesetzt. Wie sie wirklich ins Ländle gelangt ist, wird sich nicht mehr beantworten lassen. Mit Sicherheit ist lediglich bekannt, dass die ersten Exemplare in der ersten Hälfte der 1990er Jahre am Ardetzenberg in Feldkirch gesichtet wurden. Kurz darauf konnte sich eine zweite Population am Liebfrauenberg in Rankweil ansiedeln. Erstaunlicherweise zeigten genetische Untersuchungen, dass diese beiden Gruppen zwar derselben Unterart angehören, aber dennoch nur entfernt miteinander verwandt sind. Die Tiere aus Feldkirch zeigen Beziehungen in die östliche Poebene, nach Venetien und Istrien, während die Rankweiler Tiere auf Populationen zurückgehen, die im westlichen Oberitalien, in den Südalpen und im Inntal verbreitet sind. Inzwischen wurden zahlreiche neue Standorte im Rheintal und Walgau besiedelt, und durch genetische Vermischung wird es schwieriger, ursprüngliche Herkunftsgebiete festzumachen. So findet man die Mauereidechse am Bahndamm fast flächendeckend vom Bodensee bis weit in den Walgau hinein. Am Radweg beim Güterbahnhof Wolfurt beispielsweise wird es im Sommer fast unmöglich, allen sich sonnenden Tieren auszuweichen. Am Rheindamm ist sie ebenso zu finden, wie an allen anderen sonnigen und trockenwarmen Standorten, die gute Versteckmöglichkeiten zwischen Steinen bieten. Eine große klimatische Toleranz, eine lange Aktivitätsperiode, ihr geringer individueller Raumanspruch, schnelles Wachstum und frühe Geschlechtsreife begünstigen die erfolgreiche Etablierung außerhalb des ursprünglichen Verbreitungsgebiets. Bisherige Beobachtungen lassen es zudem möglich erscheinen, dass Podarcis muralis die heimische Zauneidechse von ihren angestammten Standorten verdrängt.
Wie die heimischen Eidechsenarten verfügt auch die Mauereidechse über eine merkwürdige, aber durchaus effiziente Verteidigungsstrategie. Ihre Schwanzwirbelsäule hat vorgebildete Sollbruchstellen. Dadurch kann das Tier seinen Schwanz bei Gefahr abwerfen. Dieser bewegt sich danach noch mehrere Minuten weiter. Ihm gilt nun die Aufmerksamkeit des Fressfeinds, und der Eidechse bleibt genügend Zeit zur Flucht. Der Schwanz wächst wieder nach, wobei die fehlenden Knochen durch Knorpel ersetzt werden. Der „Ersatzschwanz“ unterscheidet sich aber in Form, Färbung und Beschuppung vom übrigen Körper des Tieres, und er ist oft verkürzt. Selten aber kommt es vor, dass die Autotomie („Selbstverstümmelung“) nicht vollständig vonstattengeht. Der ursprüngliche Schwanz wird dann nur teilweise abgetrennt und bleibt am Körper hängen. Die Wunde verheilt, doch das Programm zum Wachstum eines neuen Schwanzes wurde bereits aktiviert – der Regenerationsprozess kann nicht mehr gestoppt werden. Frühere Studien sehen darin den Ursprung mehrschwänziger Eidechsen. Doch damit sollten „Urschwanz“ und „Ersatzschwanz“ unterscheidbar bleiben. Bei unserem Tier aber weichen beide Schwänze in ihrer Färbung nur unwesentlich voneinander ab. Dies lässt ein anderes Szenario wahrscheinlicher werden: In sehr seltenen Fällen wird die Wirbelsäule durch Gewalteinwirkung gebrochen. Der Schwanz wird dabei zwar abgetrennt, doch der letzte am Körper verbleibende Wirbel wird aus dem Verband gelöst und seitlich verschoben. Neben dem tatsächlichen Ende der Wirbelsäule wird er nun gleichfalls zum Ausgangspunkt für das erneute Schwanzwachstum. Das Ergebnis sind zwei Schwänze, einer als Fortsetzung der Wirbelsäule, während der kleinere, mehr seitliche Schwanz seinen Ursprung im verschobenen Wirbel hat. Dieser zeigt bei unserem Tier zusätzlich deutliche Anzeichen einer weiteren, späteren Verletzung mit anschließender Regeneration.
Sind zweischwänzige Eidechsen schon selten genug, so zählen dreischwänzige Tiere zu den ganz großen Seltenheiten in dieser Tiergruppe. Weltweit ist bisher nur eine Handvoll solcher Tiere wissenschaftlich dokumentiert worden. Bei einer Pracht-Kieleidechse aus dem Kosovo mit drei (Ersatz-)Schwänzen wurde ebenfalls eine vollständige Abtrennung des ursprünglichen Schwanzes postuliert, und alle drei regenerierten Körperteile nahmen ihren Ursprung wohl in drei einzelnen Wirbeln der durch Gewalteinwirkung gebrochenen Wirbelsäule.
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