J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Die Zauberpflanze des Miraculix

Oktober 2020

Es war Plinius der Ältere, der im Jahr 77 nach Christus in seiner Naturgeschichte auf die besondere Bedeutung der Mistel für die gallischen Druiden hinwies. Er nannte die keltischen Priester „Zauberer“ und stellte damit gleich zu Beginn klar, dass alles Folgende in den Bereich des Aberglaubens zu verweisen sei. Die barbarischen Völker des Norden sollten der der gelehrten römischen Zivilisation als unterlegen präsentiert werden.
Nicht eine beliebige Mistel wurde von den Druiden geschätzt. Nur derjenigen, die auf einer Eiche wächst, galt ihr Interesse. Während die von Plinius beschriebene Pflanze leicht als die Weißbeerige Mistel (Viscum album) identifiziert werden kann, bleibt die Eichenart ungewiss. Aber alle Eichen sind mistelfest, sie werden kaum von diesem Halbschmarotzer befallen. Den Kelten galten Eichen als heilig. Alles, was auf diesen Bäumen wächst, sei vom Himmel gesandt, und die Eiche sei ein von den Göttern auserwählter Baum. Breiten Raum widmet Plinius dem Ritual, in dem die zauberkräftige Mistel gewonnen wurde. Seine Schilderung hat unser Bild des Druiden nachhaltig geprägt – ohne Plinius gäbe es keinen Miraculix!
Hatte man endlich eine Eiche mit Misteln gefunden (was am besten im laubfreien Winter gelang), so fand dort eine große Feier statt. Es musste der sechste Tag nach Neumond sein „weil alsdann der Mond schon Kräfte genug habe und noch nicht halb voll sei.“ Der Neumond galt den Galliern als Zeitpunkt des Neubeginns, sei es des Monats, des Jahres oder eines Zeitalters von 30 Jahren. An diesem Tag bereiteten sie unter dem Baum ein Festmahl und brachten Opfer dar. Zwei weiße, ungezähmte Jungstiere wurden herbeigeführt. Schließlich stieg der Druide in einem weißen Kleid auf den Baum und schnitt die allheilende Mistel mit einer goldenen Sichel ab. Sie musste in einem weißen Tuch aufgefangen werden – die wundersame Pflanze durfte die Erde nicht berühren, da sie sonst ihre besonderen Eigenschaften verloren hätte. Selbstredend bestand die „Sichel“ (ein krummes Messer) nicht aus dem viel zu weichen Gold, sondern aus vergoldeter Bronze. Eisen hingegen musste unbedingt gemieden werden, es galt als unrein und war in vielen Riten untersagt. Zum Schluss der Feierlichkeiten wurden die weißen Stiere geopfert. Man bat um göttlichen Segen. Aus der Mistel bereiteten die Gallier einen Zaubertrank, der zwar keine übermenschlichen Kräfte verlieh, aber unfruchtbarem Vieh die Fruchtbarkeit zurückbringen und als Hilfsmittel wider alle Gifte wirken sollte.

„Der Wald ist aber auch in einem schlechten Zustand – man sollte wieder einmal ein paar Druiden durchjagen!“

Auf Eichen also wächst die Weißbeerige Mistel kaum, wohl aber auf rund 40 anderen Baumarten. Wenn diese im Herbst ihr Laub verlieren, wird der Befall erst richtig sichtbar. Die Unterarten, die Nadelbäume bevorzugen, fallen hingegen weniger auf. Misteln sind Halbschmarotzer. Mit ihren immergrünen Blättern betreiben sie – wie (fast) alle Pflanzen – Photosynthese, sie wandeln Sonnenenergie in chemisch gebundene Energie um. Das dazu notwendige Wasser aber holen sie sich von ihrem Wirtsbaum. Auch Salze und andere Nährstoffe muss der Baum an sie abgeben. Damit der Zufluss aufrechterhalten werden kann, lassen Misteln über ihre Blätter auch deutlich mehr Wasser verdunsten als ihr Wirt. So ist für eine vollständige Abdeckung des Nährstoffbedarfs gesorgt. Mit zunehmendem Wachstum entzieht der „Boomsuger“ dem Ast mehr und mehr Wasser und Nährelemente – jener wird oberhalb der Mistel dürr. Starker Mistelbefall kann sogar das Absterben ganzer Bäume verursachen, wobei Tannen eher zugrunde gehen als Föhren.
Mit der Mistel untrennbar verbunden ist die Misteldrossel. Der Vogel nutzt die Früchte der Pflanze als willkommene Winternahrung. Aber auch Seidenschwanz und Wacholderdrossel nehmen die Mistelfrüchte gelegentlich als Notnahrung auf. Sie schlucken die Beeren als Ganzes. Die unverdauten Samen werden gemeinsam mit den Beerenhäuten ausgeschieden. Die Mönchsgrasmücke hingegen frisst nur die Fruchtwand und den daran haftenden, leicht süßlichen Schleim. Der Effekt ist in beiden Fällen der gleiche: Die Fruchtwand wird aufgebrochen. Dadurch wird die Verbreitung der Pflanze erst möglich. Denn der Mistelkeimling könnte die ledrig-zähe Hülle ohne Hilfe 

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