J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Ich gebe Dir ein falsches Schlüsselloch

November 2021

Es ist schon ein Kreuz mit den bösen Geistern! Nachts schleichen sie sich ins Schlafzimmer, setzen sich auf die Schlafenden und verursachen Alpdrücken und schlechte Träume. Das muss verhindert werden! Die beste Methode ist, Geister erst gar nicht ins Haus zu lassen. Ein Drudenfuß oder ein anderes Abwehrzeichen, an der rechten Stelle in Türschwelle oder Fensterbank geritzt, soll Wunder wirken. Doch Achtung! Schon Dr. Faust musste die Erfahrung machen: Die kleinste Unachtsamkeit, und vorbei ist es mit dem Schutz. Verdächtigt man eine Nachbarin als Hexe, die sich nächtens zum Geistwesen wandelt um ihre Umgebung zu quälen, so hilft es, sich am Abend ein Messer mit der Schneide nach oben auf die Brust zu legen. Will sich der Geist nun auf dem Schlafenden niederlassen, so ist eine Verletzung unausweichlich. Und wer sich am nächsten Morgen weigert, Platz zu nehmen … Anzuraten ist diese Methode allerdings nur Menschen mit ruhigem Schlaf – die Gefahr der Selbstverletzung ist doch erheblich. In Vorarlberg aber war auch ein anderes Schutzmittel bekannt: Der Doggistein. Sein Aussehen ist schnell erklärt: »Der Stein ist von mäßiger Größe, platt­rund und hat in der Mitte ein rundes Loch; gefunden wird er nur von einem Glückskinde.« Aber was ist ein Doggi?
Das Doggi ist ein Nachtgeist. Diese Geister sind unter den verschiedensten Namen bekannt: Doggi oder Dogge im Umkreis alter Walsersiedlungen, Schrättlig, Schretlig, Schrättle oder Schretle im Rheintal, Bodenseegebiet und Bregenzerwald. Trud oder Drud hingegen ist vorwiegend auf Schwaben und Mittelfranken, besonders aber auf den Bayrisch-Österreichischen Raum beschränkt. In Vorarlberg gänzlich unbekannt sind die norddeutschen Bezeichnungen (Nacht-) Mahr und Albe. Das Doggi wurde nicht immer als selbständiges Geistwesen aufgefasst. Auch eine Hexe konnte zum Doggi werden. Umgekehrt nahmen gefangene Schrättlige Menschengestalt an. Das Doggi plagte nicht nur die Menschen. Den Kühen saugte es die Milch aus und auch andere Haustiere wurden von ihm gequält. Gegen den Milchzauber half es, das Vieh durch das Loch im Stein zu melken.
Im Schlafzimmer sorgte der Lochstein für Ruhe, wenn er an einer roten Schnur über dem Bette aufgehängt wurde (und die Schnur reißfest war). Denn die Nachtgeister bevorzugen Schlüssellöcher oder Ritzen, um in ein Zimmer zu gelangen, benutzen aber niemals eine Türe. Und sie müssen den Raum auf demselben Wege verlassen, auf dem sie gekommen sind. Gleichzeitig sind sie neugierig, aber nicht sonderlich schlau. Hängt nun ein Lochstein über dem Bett, so vermutet der Nachtgeist ein Schlüsselloch. Er will nachsehen, was auf der anderen Seite ist, saust durch das Loch – und befindet sich im selben Zimmer. Der Geist ist verwirrt, er versucht es noch einmal. Der Stein kann sich am Faden drehen und der Geist achtet nicht darauf, in welche Richtung er das Loch durchquert. Schließlich merkt er, dass er gefoppt wird, steht nun aber vor einem neuen Problem: Er muss wieder durch das Loch zurück, seinen Irrweg in entgegengesetzter Richtung nochmals durchlaufen. Kurz, der arme Geist hat gar keine Zeit mehr, sich auf den Schlafenden zu setzen! In Goethes »Faust« gibt Mephisto die nötige Erklärung: »’s ist ein Gesetz der Teufel und Gespenster: / Wo sie hineingeschlüpft, da müssen sie hinaus. / Das Erste steht uns frei, beim Zweiten sind wir Knechte.« Worüber Faust nun doch etwas verwundert ist: »Die Hölle selbst hat ihre Rechte?«
Doch was qualifiziert nun einen Stein als Doggistein? Seine mineralogische Zusammensetzung, seine Lithologie ist im Grunde völlig belanglos. Das entscheidende Kriterium ist allein das Loch, das auf natürlichem Wege entstanden sein muss. Mit dieser Forderung nach einer natürlichen Entstehung des Loches nahm man es in anderen Gegenden nicht so genau und verwendete gelegentlich auch vorgeschichtliche Steinbeile. Echte Lochsteine aber sind das Produkt der selektiven Verwitterung.  
Alle Lochsteine, die im Laufe der Jahre von Wanderern zur Begutachtung in die inatura geschleppt worden sind, waren Kalkgesteine. Und alle Kalksteine Vorarlbergs sind Meeresablagerungen, entstanden über dem flachen Kontinentalsockel, dem Schelf, oder auf Hochzonen im Ozean. So gut wie immer waren Organismen an ihrer Entstehung beteiligt: Korallen und Schwämme bauten stabile Riffkörper, Muscheln und Schnecken, Seeigel und Armfüßer lebten auf dem Schlamm oder in ihm vergraben. Und auch der Kalkschlamm selbst war organischen Ursprungs: Wellen und Meeresströmungen zerrieben die Schalen abgestorbener Tiere zu feinsten Partikeln, Mikroben sorgten für Kalkfällung direkt aus dem Meerwasser. Sieht der aus diesem Schlamm verfestigte Kalkstein heute auch homogen aus, so ist er dennoch nicht einheitlich aufgebaut: Tonminerale sind unregelmäßig im Gestein verteilt und sorgen für weichere Partien. Sie erleichtern das Eindringen von Säuren, die den Kalk langsam aber beständig auflösen. Aber auch unter Pflanzenpolstern können die Wurzelsäuren Löcher in den Kalk ätzen. Eine Besonderheit sind Grabgänge von Krebstieren. Ursprünglich im leicht verfestigten Kalkschlamm angelegt, wurden sie später mit einem anderen, oftmals tonigen Material verfüllt. Als mergelige Partien zeichnen sie sich heute im Kalkstein ab. Auch sie werden bevorzugt angegriffen, sodass sich der ehemalige Grabgang nun wieder als Loch präsentieren kann.
Lochsteine sind seltene Launen der Natur und dennoch gut zu deuten. Den Menschen früherer Jahrhunderte aber erschienen sie unerklärlich, ja beinahe übernatürlich. Kein Wunder, dass sie verwendet wurden, um die Schadwirkung übernatürlicher Geister zu bannen.

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