J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Langstreckenzieher

Dezember 2022

Tiere wandern. Manchmal unfreiwillig, etwa als blinder Passagier im internationalen Warenverkehr oder als ungewolltes Mitbringsel im Urlaubsgepäck. Aber bei gar nicht wenigen Tierarten sind lange Wanderungen – ungeachtet all ihrer Strapazen und Gefahren – im genetischen Code vorprogrammiert. Die bekanntesten Wanderer haben vor kurzem unser Land verlassen, um anderen Wanderern Platz zu machen: Vögel suchen zur Brutsaison gezielt Gebiete, die ihrem Nachwuchs optimale Umweltbedingungen und ein optimales Nahrungsangebot bieten. Ist der Nachwuchs flügge, so ändern sich auch Witterungsbedingungen und Nahrung – ein Signal, die zweite Jahreshälfte an einem anderen Ort zu verbringen. Wir aber staunen ob der Flugleistungen und Orientierungskünste, mit denen die Tiere treffsicher ihren Zielort finden.
Bei größeren Vögeln ist es kein Problem, diese Wanderungen zu verfolgen. Sender informieren uns kontinuierlich über den Aufenthaltsort der mit ihnen ausgestatteten Störche. Aber bei Insekten ist es so gut wie unmöglich, ein einzelnes Tier über große Distanzen zu verfolgen. Ja, Sie haben richtig gelesen: „Insekten“ und „große Distanzen“! Die bekanntesten Langstreckenzieher im Reich der Krabbeltiere finden sich unter den Schmetterlingen. Und wir müssen nicht einmal nach Nordamerika, um dort den Zug der Monarchfalter zu bewundern.
Wanderfalter gibt es auch in unseren Landen. Insgesamt 64 Schmetterlingsarten wurden in der aktuellen Roten Liste nicht eingestuft und somit keiner Gefährdungskategorie zugeordnet. In dieser Gruppe befinden sich Arten, die in den vergangenen Jahrzehnten nach Vor­arlberg verschleppt wurden und inzwischen als etabliert gelten, die in ihrem Überleben aber stark an den Menschen gebunden sind. Doch die überwiegende Mehrheit der nicht eingestuften Arten sind Wanderfalter. Sie fliegen regelmäßig aus dem Süden in Gegenden weit nördlich der Alpen, um dort eine Sommergeneration zu bilden. 
Zu den Wanderfaltern gehören zwei unserer schönsten Tagfalter: Der Distelfalter (Vanessa cardui) und der Admiral (Vanessa atalanta). Im vergangenen Spätherbst konnten wir den Admiral in großer Anzahl an faulendem Obst beobachten. Die zuckerhaltigen Säfte waren eine willkommene Kraftquelle. Denn dass die hier geschlüpften Falter den Rückflug in den Süden wagen wollten, lag auf der Hand. Allein ob und wie sie die Alpen überqueren, blieb im Dunkeln. Und inzwischen erscheint dies auch gar nicht mehr nötig: Admiral & Co. schaffen es, die immer milderen Winter zu überdauern. Die permanenten Populationen in Vorarlberg werden jedoch durch regelmäßigen Zuzug aus dem Süden gestützt.
Licht ins Dunkel der Schmetterlingswanderungen sollte eine andere Art bringen. Der Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos) zählt zu den größten Faltern, die hierzulande angetroffen werden. Sein Hauptverbreitungsgebiet liegt in Afrika südlich der Sahara. Auch Nordafrika und die südlichsten Zipfel Europas am Mittelmeer sowie die Arabische Halbinsel sind permanent besiedelt. Aber in der warmen Jahreszeit begeben sich die Falter auf Wanderschaft und ziehen weit nach Norden. Selbst in Island kann man in günstigen Jahren Totenkopfschwärmer antreffen. Je nach Gesamtwetterlage kann der Einflug in den einzelnen Jahren unterschiedlich stark ausfallen.
In seiner ursprünglichen Heimat ist der Totenkopfschwärmer an keine strenge Generationsfolge gebunden: Die Falter vermehren sich das ganze Jahr über. Auch in unseren Breiten sorgen sie für Nachwuchs, doch hier müssen sie sich den Jahreszeiten unterordnen. Noch immer liest man in Steckbriefen, dass die im Erdreich vergrabenen Puppen unsere kalten Winter nicht überleben. Wir können diese Information getrost vergessen, denn als Folge des Klimawandels mehren sich auch beim Totenkopfschwärmer die Hinweise auf eine erfolgreiche Überwinterung. Damit wird es schwierig, im März und April zwischen hier geschlüpften Überwinterern und den ersten Neuzuzüglern zu unterscheiden. Die Hauptzuwanderung erfolgt in zwei Wellen – im Mai und Juni sowie im August und September. Die Weibchen wurden bereits vor Reiseantritt befruchtet. Die Eier reifen während des Fluges. Ist die Reifung abgeschlossen, so sucht das Weibchen nach einem geeigneten Ablageort. Bei der ersten Einwanderungswelle kommt dafür eine Vielzahl unterschiedlicher Pflanzen in Frage, aber bei der zweiten Welle wird die Kartoffel bevorzugt. Und beim Kartoffelstechen sorgen Raupen wie Puppen immer wieder für fragende Blicke.
Dass sich auch aus den im Norden gelegten Eiern vollwertige Falter entwickeln, war lange bekannt. Unbekannt war, welches Schicksal diese Tiere ereilt. Selbstredend wurde über den Rückflug spekuliert. Aber bis vor kurzem fehlte das Instrumentarium, diesen auch zu dokumentieren. Selbst wenn es möglich wäre, einzelne Tiere zu markieren – die markierten Tiere wiederzufinden, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Klarheit brachten schließlich nur 0,2 Gramm leichte Miniatursender. Deren Sendeleistung ist freilich so gering, dass die Forscher den besenderten Tieren im Kleinflugzeug folgen mussten, wollten sie den Funkkontakt nicht verlieren. Bis zu 80 Kilometer verfolgten sie die Falter von Konstanz bis weit in die Alpen. Und sie staunten, dass sich die leichten Tiere von widrigen Winden nicht beirren ließen. Je nach Wind änderten sie ihre Flughöhe, behielten aber den eingeschlagenen Kurs geradlinig bei. Der Rückflug war bewiesen, und die Totenkopfschwärmer zeigten sich dabei als echte Navigationsexperten, die den Vögeln ebenbürtig sind. Und trotz ihrer Kleinheit sind sie weit weniger anfällig für nachteilige Winde, als bisher angenommen wurde.

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