Meinrad Pichler

* 1947 in Hörbranz, Studium in Wien, pensionierter Schulmann und aktiver Historiker. Zahlreiche Veröffentlichungen zur neueren Vorarlberger Landes­geschichte, 2014 Wissenschaftspreis des Landes Vorarlberg.

SPUREN SUCHE HISTORISCHE BIOGRAFIEN

Dezember 2021

Otto Madlener, geboren am 3. März 1879 in Lustenau als Kind eines k.k. Zollwachekommissärs, trat nach der Matura in Innsbruck ebenfalls in den Zolldienst ein und amtierte später viele Jahre als Leiter des Bregenzer Hauptzollamtes. Seit seiner Jugend nahm er mit Erfolg an Radrennen und an Turn- und Kraftsportwettkämpfen teil. Das bedeutendste Resultat erreichte er 1904 mit einem fünften Rang bei den Weltmeisterschaften im Ringen. Das war die bis dahin beste Leistung eines Vorarlberger Sportlers.

 

Lesetipp!Bewegende Ideen, wirkmächtige Ideologien und Religionen sind der große Überbau für die Gestaltung eines jeden Gemeinwesens. Sie formen die Art des Zusammenlebens, des Wirtschaftens und der politischen Organisation. Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte befassen sich mit den vergangenen Abläufen und Verhältnissen in diesem zusammenwirkenden öffentlichen Geflecht. Nicht weniger Einfluss auf die Existenz des Einzelnen üben der Fundus an vorgegebenen Kulturtechniken, an kollektiven Erfahrungen und an familiären Vorgaben aus. Innerhalb dieser großen gesellschaftlichen Architektur leben und agieren die einzelnen Menschen. Und auf dieser Ebene bewegt sich die Biografik, die zeigt, wie sich die großen ideellen Entwürfe und die realen Herrschaftsverhältnisse in der Lebenspraxis der Menschen niederschlagen. Die Einzelnen sind aber nicht nur Objekte der Geschichte, sondern – mehr und weniger – handelnde Subjekte. Diese Einbettung in einen vorgegebenen historischen Rahmen bei gleichzeitiger Möglichkeit, denselben auslegen und füllen zu können, ist zugleich Dilemma und Chance für das Individuum. „Von uns allen“, konstatiert der deutsche Soziologe Ulrich Beck, „wird erwartet, dass wir biografische Lösungen für systemische Widersprüche finden.“ Die Menschen, das könnte an den Beispielen des Buches „Spurensuche“ sichtbar werden, machen ihre Geschichte nicht nur aus freien Stücken, aber sie machen sie jeweils selbst. 
Unter diesen Voraussetzungen ist die Beschäftigung mit Einzelschicksalen spannend und herausfordernd zugleich. Spannend, weil individuelle Lebensgeschichten in der Regel mehr berühren als abstrakte Phänomene des Überbaus, und herausfordernd, weil es problematisch ist, einem Menschen gerecht zu werden, ohne ihn auf- oder abzuwerten. Zudem sollte eine ansprechende Biografie über die beschriebene Person hinausweisen und die Wechselbeziehung zwischen den vorgefundenen Verhältnissen und den individuellen Lösungen aufzeigen.
Für den vorliegenden Band von 27 Lebensgeschichten von Menschen aus und in Vorarlberg waren aber noch weitere Kriterien von Belang: Die ausgewählten Personen sollten von ihrer sozialen und regionalen Herkunft ein breites Spektrum abdecken. Dieses reicht von der Dornbirner Textilarbeiterin Marie Leibfried-Brüstle (1869-1930) bis zum Schwarzenberger Kaufmann und Landtagsabgeordneten Josef Anton Hirschbühl (1855-1909); und von der Gaschurner Wirtin Viktoria Juen-Kessler (1839-1916) zum Bierbrauer Felix Pfanner (1818-1892) aus Hörbranz, der es im toskanischen Lucca zu Wohlstand brachte. Auch eine Streuung nach Berufen war beabsichtigt. Neben drei Ärzten, die an unterschiedlichen Orten praktizierten, nämlich der Bregenzer Josef Gebhard Kiene (1800-1852) als Kurarzt in Bad Gastein, Josef Keckeis (1862-1949) aus Nüziders als Stadt- und Gefängnisarzt in Stein und Caspar Hagen (1820-1885), der Bregenzer Stadtarzt und Mundartdichter, finden sich mit Sines Alge aus Lustenau (1847-1909), Maria Schmid (1794-1864) aus Au und Martina Moosbrugger (1867-1940) in Dornbirn drei eigenwillige Lehrpersonen. Dass in Vorarlberg auch das Musikleben in unterschiedlicher Form eine Rolle spielte, zeigen die Lebenswege der „stillen Geigerin“ Anna Katharina Stülz (1861-1910) aus Bezau, der Opernsängerin Caroline Atzger-Langwara, die das Dornbirner Publikum in den 1890er-Jahren begeisterte und des Geigenvirtuosen Alwin Kappelsberger (1883-1926) aus Feldkirch. Ungewöhnliche Wege gingen der Maler Mathias Jehly (1820-1892) aus Bludenz als Burgschauspieler oder Franz Josef Breuß (1774-1823) aus Altenstadt, der in Wien eine geradezu amerikanische Karriere machte. Mit Otto Madlener (1879-1967) aus Bregenz werden der erste bedeutende Vorarlberger Sportler und mit Kreszentia Griß-Bucher (1825-1913) aus Viktorsberg die erste erfolgreiche Viehzüchterin porträtiert. Die Tiroler Wanderfotografin Katharina Back (1827-1893) wurde schließlich in Bregenz sesshaft und ließ sich wie andere arrivierte Bürgerinnen und Bürger vom ebenfalls aus Tirol stammenden Baumeister Romedius Wacker (1846-1916) eine Villa bauen. In den Verfolgungsapparat der Nationalsozialisten gerieten der aus Wien stammende Fernmeldetechniker Walter Kareis (1906-1988) und der Dornbirner Gendarmeriekommandant Hugo Lunardon (1893-1949). Der Bauernbub Luzius Hanni (1875-1931) aus Göfis brachte es auf Umwegen zum Mathematikprofessor an der Universität Graz und der am Bregenzer Gymnasium tätige Literaturprofessor Dr. Severino Colmano (1872-1959) floh mit Beginn des Ersten Weltkriegs nach Italien. Auch die Barmherzige Schwester Elisabeth Rhomberg (1859-1938) aus Dornbirn als Ordensmanagerin in Innsbruck und der ungewöhnliche Pfarrer Josef Fink aus Riefensberg hinterließen Spuren, die es wert waren, verfolgt zu werden.
Diese Aufzählung macht deutlich, dass Zu- und Abwanderung seit 150 Jahren die Vorarlberger Gesellschaft prägten, und verweisen nachdrücklich auf die demografischen Dynamik des bäuerlichen Industrielandes.
Zehn der insgesamt 27 Porträts sind Frauen gewidmet, obwohl gerade bei ihnen die Quellenlage meist ungünstig war. Frauen wirkten in der Regel im Privaten, sind deshalb selten aktenkundig geworden und fanden in der öffentlichen Berichterstattung kaum Erwähnung. Ihre oft tiefen Spuren prägen in erster Linie das Familiengedächtnis.
Neben diesen inhaltlichen Ab- und Rücksichten stellen Biografien auch formale Anforderungen, denen in diesem Band Genüge getan werden sollte. Das lineare Erzählen wird durch literarische Techniken wie Rückblenden, Vorausdeutungen und Wechsel der Erzählperspektive immer wieder gebrochen, um den Personen näher zu kommen und Spannung zu erzeugen.
Die hier versammelten historischen Biografien sind keine Psychogramme, es geht vornehmlich um die Spuren, die durch Wort und Tat hinterlassen wurden.

Lesetipp!

Meinrad Pichler, „Spurensuche“, Historische Biografien aus Vorarlberg, Russmedia Verlag, 2021

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