J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Wie eine vermeintliche Libelle „mutiert“

Juni 2021

Es gibt merkwürdige Lebewesen auf unserem Planeten, und die Tierwelt hält für uns so manche Überraschung bereit. Und natürlich auch so manches Rätsel, wenn es gilt, ein Insekt mit einem konkreten Artnamen korrekt anzusprechen. Kryptische Zwillingsarten innerhalb derselben Gattung, die sich nur in winzigen Details des Geschlechtsapparats unterscheiden, haben schon manchen Forscher zur Verzweiflung getrieben. Mittels genetischer Untersuchungen können sie heute leichter auseinandergehalten werden. Doch diese Methodik steht nicht jedem offen, und sie ist nutzlos, wenn die Beobachtung nur auf einem Foto dokumentiert ist. Für Naturinteressierte mit weniger Fachwissen laden daher manchmal Insekten aus völlig unterschiedlichen Gruppen zum heiteren Artenraten ein. Denken wir doch daran, wie viele Insektenarten sich im Laufe der Evolution dem Aussehen von Wespen angenähert haben. Und dann gibt es auch Ähnlichkeiten, die nur durch unsere subjektive Wahrnehmung vorgetäuscht sind. Ob diese leichter aufzulösen sind? – Manchmal macht auch Fachwissen betriebsblind!

Ein unscharfes Insektenfoto vom Hohenemser Schlossberg, gepostet auf einer Naturbeobachtungsplattform, stellte solch eine Bestimmungsaufgabe. Sie konnte erst in internationaler Zusammenarbeit gelöst werden. An einer metallisch braun glänzenden Brust sitzt ein verhältnismäßig kleiner Kopf mit überproportional großen Augen – man könnte fast meinen, dass der gesamte Kopf nur aus den beiden Augen besteht! Der Hinterleib wiederum ist wie eine überlange Wespentaille verengt. An deren Hinterende befindet sich eine keulenförmige Verdickung. Auch hier dominiert die Farbe Braun, nur die Basis der „Keule“ leuchtet in hellem Gelb. Das Tier wurde von schräg hinten fotografiert, sodass manche Details nicht sichtbar sind. Und dennoch: Auf den ersten Blick entspricht das Tier genau dem Anblick, den eine Libelle in vergleichbarer Perspektive bietet. Unter dieser Großgruppe hat der Finder sein Foto dann auch eingeordnet. 

Das Ratespiel begann, als ein Name für das Tier gefunden werden sollte. Denn das Unbekannte Flugobjekt zeigt zahlreiche Merkmale, die mit den heimischen Libellen schlicht nicht kompatibel sind: Die Färbung entspricht am ehesten den Falkenlibellen, einer Gruppe von Großlibellen, die meist metallisch grün bis bräunlich gefärbt sind. Neben der Farbe sprachen auch die großen Augen für diese Gruppe. Was störte, war die Wespentaille mit der Keule am Körperende. Gegen eine Kleinlibelle wiederum sprachen die viel zu großen und anders geformten Augen. Und auch hier passte der Hinterleib in keine Gattung. Also ein Exot. Man weiß ja, dass über den Zoo- und Gartenfachhandel die merkwürdigsten Tiere eingeschleppt werden. Selbst die letzten Kilometer zum späteren Fundort können sie bequem – vielleicht sogar noch als Larve – im Auto zurücklegen, um dann vom Garten ausgehend ihre neue Umgebung zu erkunden. Aber auch bei den exotischen Libellen passte vieles nicht. Und ein Detail fiel erst bei genauerem Studium des Fotos auf: Für eine Libelle war das winzige Tier viel zu klein! Doch was konnte es sonst sein?

Die Wespentaille führte nur kurz in die Irre. So groß und divers die Gruppe der Hautflügler auch sein mag: Keine Wespe hat so große Augen, aber in allen Fällen sind – manchmal sehr lange – Fühler vorhanden. Und die sind bei unserem Rätseltier nicht erkennbar. Ein Forscherkollege aus Deutschland gab den entscheidenden Hinweis: Die einzige Gruppe mit derart großen, ja fast übertrieben wirkenden Augen sind die Fliegen. Der zugezogene Libellenexperte – ebenfalls aus Deutschland – fand schließlich eine vergleichbare Gattung unter den Schwebfliegen. Und die inatura konnte bestätigen: Die Gemeine Schattenschwebfliege (Baccha elongata), auch Helle Nadel-Schwebfliege genannt, ist bereits früher am Hohenemser Schlossberg nachgewiesen worden: Das Rätsel war gelöst, und die vermeintlich exotische Libelle war als heimische Schwebfliege enttarnt. Eine letzte Unsicherheit war rasch ausgeräumt: Die fast gleich aussehende Baccha obscuripennis wird nicht mehr als eigenständige Art betrachtet, sondern gilt heute lediglich als Varietät von Baccha elongata.

Dabei ist die Gemeine Schattenschwebfliege gar nicht so selten. Einzig ihre Kleinheit (sie wird kaum über 11 Millimeter groß) verhindert, dass sie häufiger beobachtet oder gar fotografiert wird. Sie lebt an schattigen Plätzen in Wäldern, an feuchten Stellen in der Nähe von Bächen und Waldrändern. Dort können die Männchen an warmen Tagen oft stundenlang in der Luft schweben. Die Weibchen hingegen sind träge Flieger: Sie sitzen lieber auf Blättern und Halmen im Unterholz. Wie alle Schwebfliegen ernähren sich auch die geschlechtsreifen Tiere von Baccha elongata vom Nektar der Pflanzen. An Engelwurz, Hexenkraut, Knoblauchsrauke, Waldziest, Waldmeister oder Mauerlattich sind sie gerne anzutreffen. Dort spielen sie eine wichtige Rolle bei der Bestäubung. Ihre Larven hingegen halten überhaupt nichts von veganer Ernährung – sie vertilgen Blatt- und Schildläuse. Die Gemeine Schattenschwebfliege kann von April bis Oktober beobachtet werden. Sie fliegt in zwei Generationen pro Jahr.

Ein unscharfes Foto aus ungewöhnlicher Perspektive hat also eine völlig unangebrachte Assoziation ausgelöst. Selbst ein Libellenexperte war im ersten Augenblick ratlos – er konnte lediglich festhalten, dass er das Tier in seinem Erfahrungskreis heimischer Libellen nicht unterbringen konnte. Dieser „Bestimmungskrimi“ zeigt deutlich, wie vorsichtig man manchmal bei der Insektenansprache auf Basis von (suboptimalen) Fotos sein muss.

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