Wolfgang Türtscher
Harald Walser

Das Gymnasium abschaffen – ja oder nein?

Mai 2015

Harald Walser

(Abgeordneter zum Nationalrat und Bildungssprecher der Grünen)

Bildungsreform jetzt! Das Bürgertum ist aufgebracht, denn das veraltete Schulsystem ist ineffizient und dringend renovierungsbedürftig. Manchmal führt das gar zu einer Revolution: So war’s im Jahr 1848.

Auch heute haben wir ein ineffizientes und zudem teures Bildungssystem, das nur noch von einigen – allerdings sehr einflussreichen – Konservativen mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Und eine grundlegende Änderung tut auch heute not. Denn unser Schulsystem mit seiner frühen Trennung der Kinder im zehnten Lebensjahr erbringt nicht nur schlechte Leistungen, es ist auch ungerecht. Im österreichischen Durchschnitt wechseln nach der Volksschule rund 33 Prozent aller Kinder in ein Gymnasium. Geografische Faktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle – oder sind die Kinder im hinteren Bregenzerwald und in Bezirken wie Hermagor, wo es nach der Volksschule fast keine Übertritte ins Gymnasium gibt, dümmer als jene in Wiener Bezirken wie Hietzing (75,8 %) oder Innere Stadt (70,3 %)?

Ähnlich entscheidend ist die Herkunft. Hat zumindest ein Elternteil eine akademische Ausbildung, geht ein Kind in Österreich mit einer fast 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit in eine AHS-Unterstufe, bei Eltern mit Pflichtschulabschluss sind es nur 12,3 Prozent. Niemand behauptet, die Hauptschule sei eine Sackgasse. Kinder aus ländlichen Gebieten machen oft nach der Hauptschule noch eine Matura – an der statistisch messbaren Benachteiligung dieser Regionen ändert das aber nur wenig.

Und was ist mit dem viel beschworenen „Leistungsprinzip“? Laut PISA schaffen es in Österreich trotz der angeblichen „Aussortierung der Besten“ mit zehn Jahren nur drei Prozent aller 15-Jährigen in den drei Testbereichen Lesen, Mathematik und Englisch in die Spitzengruppe. In Finnland mit seinem Gesamtschulsystem sind es dreimal so viele.

Auch im unteren Bereich der Leistungspyramide schneiden Länder mit einer modernen Gesamtschule der Zehn- bis Vierzehnjährigen erkennbar besser ab – zum Beispiel Südtirol. Dort sind im Bereich Lesen 15,9 % der Kinder „Risikoschüler“ – in Nord- und Osttirol gibt es fast doppelt so viele (31 %). In Südtirol stehen oft zwei bis drei Lehrpersonen in der Klasse, damit Kinder je nach ihren Möglichkeiten individuell gefördert werden. Das kommt starken wie schwachen Schülern gleichermaßen zugute – Schwache holen auf, Starke haben die Möglichkeit, ihr Wissen zu vertiefen und sich mit komplexeren Aufgaben zu beschäftigen.

Die österreichische Schulreform-Bewegung hat von diesen und vielen anderen Beispielen gelernt. Die Reformkonzepte liegen auf dem Tisch, aber parteipolitisches Hickhack und eine nur an Standesinteressen orientierte Gewerkschaft verhindern die notwendigen Maßnahmen zum Auf- und Ausbau einer modernen und leistungsfähigen Gemeinsamen Schule für alle Kinder bis zum 14. Lebensjahr.

Übrigens: Die Revolution von 1848 wurde nach Anfangs­erfolgen bald niedergeschlagen. Doch immerhin eine Errungenschaft hat sich damals durchgesetzt: das achtjährige Gymnasium. Das war gut für das 19. Jahrhundert. Heute sind wir im 21. Jahrhundert.

 

Wolfgang Türtscher

(Jg 1956, ist seit 1984 AHS-Professor für Deutsch, Geschichte und Ethik am BG Bregenz-Blumenstraße und war von 1986-2014 Geschäftsführer bzw. Direktor der VHS Bregenz. Seit 1990 ist er Obmann der VHS Götzis und seit 1995 Bildungsreferent des ÖAAB Vorarlberg.)

Das Gymnasium – eine Sache des Hausverstands! Das Gymnasium erfreut sich ungebrochener Beliebtheit. Besonders deutlich zeigt das die „Schulstudie 2014 – Wie Deutschland über Schule denkt“: 92 Prozent der Befragten sprechen sich dort für den Erhalt des Gymnasiums aus. Dieses Ergebnis wird auch auf Österreich umzulegen sein. Trotzdem gibt es seit hundert Jahren immer wieder Versuche, das Gymnasium abzuschaffen und durch eine undifferenzierte Gesamtschule zu ersetzen. Das nun schon seit einiger Zeit andauernde „Ping-Pong“ Gymnasium versus Gesamtschule hat allerdings keines der aktuellen Probleme gelöst. Aktueller bildungspolitischer Befund ist, dass die Aufnahme ins Gymnasium derzeit untauglich organisiert ist, dass die beruflaiche Bildung – insbesondere das duale System – mehr Wertschätzung verdient, dass das Beheben von Defiziten im Kindergarten-, Vorschul- und Volksschulbereich vorrangig ist, dass insbesondere die Pflichtschulen mehr Unterstützungspersonal benötigen – Psychologen, Erzieher, Sozialarbeiter etc. – und dass niemand in die Volksschule eintreten sollte, der die Unterrichtssprache Deutsch nicht beherrscht.

Das Gymnasium außer Streit zu stellen, ist das Anliegen der Initiative „Pro Gymnasium“, die am 2. Oktober 2014 in Innsbruck präsentiert wurde, damit man sich den „echten Bildungsproblemen“ widmen kann. Am 26. Februar 2015 wurde das „Vorarlberger Aktionskomitee Pro Gymnasium“ in einer Pressekonferenz durch Gottfried Bechtold, Egon Blum, Klaus Ender, Rainer Gögele, Gottfried Schröckenfuchs, Robert Sturn, Etienne Wenzl und mich der Öffentlichkeit vorgestellt.

Alle Umfragen relevanter Zeitungen in ganz Österreich erbringen Ergebnisse zwischen 70 und 80 Prozent Zustimmung für die Beibehaltung des achtjährigen Gymnasiums. Auch das von der Vorarlberger Landesregierung am 27. November 2014 vorgestellte Ergebnis des Forschungsprojekts „Schule der 10- bis 14-Jährigen“ macht deutlich, dass 90 Prozent der Befragten mit der Schule ihrer Kinder, ob Mittelschule oder Gymnasium, zufrieden sind – sie würden die Kinder wieder dort anmelden.

Das achtjährige Gymnasium ist ein wesentlicher Bestandteil des leistungsorientierten und differenzierten österreichischen Schulsystems. Es vermittelt eine umfassende Ausbildung in den verschiedensten Gegenständen, ob das Sprachen sind, Mathematik oder die naturwissenschaftlichen Fächer wie Physik und Chemie. Kein vernünftiger Mensch stellt das infrage. Eine besonders deutliche Warnung an jene „zeitgeistigen“ Politiker, die das Gymnasium abschaffen wollen, kommt ausgerechnet vom grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann: „Wer sich am Gymnasium vergreift, überlebt das politisch nicht. Gegen den Widerstand des Bildungsbürgertums lässt sich diese Schulart nicht abschaffen.“ Und der Wissenschaftssprecher der ÖVP, Karlheinz Töchterle, meint: „Es wäre vollkommen unverständlich, eine so beliebte, so erfolgreiche Schulform nicht beizubehalten.“

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