Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Der in mir mehr gesehen hat als alle anderen“

Dezember 2024

Eintausend Teilnehmer, drei renommierte Referenten, hochinteressante Impulse: Das vierte Vorarlberger Bildungsforum in der Nachlese.

Wie kann die tägliche Bildungsarbeit einen langfristigen Beitrag zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft leisten? Unter dem Motto „Wirkung entfalten“ lud die Wirtschaftskammer Vorarlberg Mitte November zum mittlerweile vierten Vorarlberger Bildungsforum; eintausend Lehrer und Lehrerinnen sowie weitere bildungsaffine Menschen waren der Einladung gefolgt. Wobei auf der Werkstattbühne im Festspielhaus bildungspolitisch hoch Interessantes geboten wurde – sprich drei unterschiedliche Vorträge, die Bildungsfragen jeweils aus einem anderen Gesichtspunkt thematisierten.

Kinder schützen
Den Anfang machte dabei Silke Müller, Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen und Autorin des Bestsellers „Wer schützt unsere Kinder?“. Spreche man über Schule, sei es unfassbar wichtig, auch über Digitalisierung zu sprechen, sagte Müller einleitend: „Und mir ist es seit Jahren ein Dorn im Auge, dass wir Digitalisierung und Technisierung in einen Topf schmeißen.“ Schulen lediglich mit technischem Equipment auszustatten, und zu erklären, man sei digital, weil man viele Tablets habe, das ist für die Deutsche „ein Problem“. Eine aktuelle Studie bescheinigt deutschen Achtklässlern „über keinerlei digitale Kompetenzen zu verfügen, die sie zur digitalen Teilhabe befähigen. Sie können wischen, und das war’s.“
Untersuchungen zufolge sind Jugendliche in unseren Breiten 71 Stunden pro Woche online; natürlich auch zu schulischen Zwecken, aber eben auch, um an der Welt der sozialen Medien teilzuhaben. Doch erblicken Kinder und Jugendliche dort nicht nur Unterhaltsames und Banales. Die Expertin gab dem Publikum an dieser Stelle einen drastischen Einblick in die Abgründe der Sozialen Medien.

„Unfassbar gefährlich“
Eine etwas gefilterte Auswahl soll genügen: Ein Jugendlicher berichtet in einem Video stolz, wie es ist, eine alte Frau zu Boden zu stoßen. Eine Frau wird vor laufender Kamera geköpft. Schlachtszenen aus Gaza werden live übertragen. Dabei gilt eine Regel: Je schlimmer etwas ist, desto schneller geht es viral, desto schneller verbreitet es sich im Netz. Müller nennt Snapchat „unfassbar gefährlich“, sie sagt auch: „Alles landet und mündet bei TikTok.“ Von dort aus werden Kinder auf andere Plattformen gelockt, auf denen die zuvor nur angeteaserten Inhalte dann in voller Länge zu sehen sind. Zwei Jugendliche, offenbar im asiatischen Raum, filmen sich dabei, wie sie eine Babykatze in einen Küchenmixer stecken, und diesen einschalten. Dieses Video taucht zuerst auf der Plattform x auf, dann landet es bei TikTok. Sie habe an einer Schule in Mailand referiert, etwas später an einer High-School in Washington D.C.: „Jedes Kind kannte dieses Video.“
Kurz danach habe sie vor dem Europäischen Parlament gesprochen. Hochrangige Vertreter diverser Plattformen hätten ihr dort und damals versichert, man werde ganz viel zum Schutz der Kinder und Jugendlichen tun: „Was glauben Sie, was nach wie vor im Netz ist?“ Das Video von der Babykatze im Mixer. Und unzählige andere Bilder und Videos, „von härtester Folter, äußerster Gewalt, härtester Pornografie.“ Und KI? Macht Müller zufolge alles nochmals schlimmer. Müller zeigte an dieser Stelle, wie ein älterer Mann mithilfe eines Teenage-Filters im Video auf einmal wie ein Jugendlicher aussieht; und – solcherart verändert – mit Jugendlichen im Netz kommuniziert. „Und all das“, sagte die Deutsche, „ist Alltag für unsere Kinder im Netz. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken. Wir müssen unsere Kinder schützen!“ Aber wie? Müller fordert dringend härtere Gesetze auf europäischer Ebene, sie fordert dringend europaweite und stets aktuelle Aufklärungen; jedes Mal, wenn im Netz wieder etwas viral geht, was Sorge macht; wie etwa gefährliche Challenges, die dann imitiert werden.

Müllers Ratschlag
Doch all das wird Lehrer und Eltern von einem nicht entlasten: Von der Notwendigkeit, sich zuerst selbst in den Netzwerken umzusehen, und dann mit den Kindern und Jugendlichen über diese virtuellen Abgründe zu sprechen. Schulleiterin Müller hat in ihrer Schule in Niedersachsen eine Social-Media-Sprechstunde in den Unterricht inkludiert. Ihr Tipp für Eltern? „Die Kinder am Abend zu fragen: Was war das Schönste, das Du heute in den sozialen Netzwerken gesehen hast? Und was hat Dich am meisten schockiert?“ Dann, sagte Müller, dann habe man ein Gespräch. Und was gilt für den Unterricht, was gilt in der Schule? „Wir arbeiten seit Jahren bereits im digitalen Bereich. Aber wir machen so viele Fehler, weil wir eben nicht überlegen, was Digitalisierung wirklich bedeutet.“ Soll heißen: An Gutem. Aber eben auch an Schlechtem.

Junge Menschen ermächtigen
EU-Jugendbotschafter Ali Mahlodji übernahm. Und berichtete zunächst, dass sich in der vergangenen Dekade nicht nur Organisationen, sondern eben auch Schulen grundlegend verändert hätten. Auf den Wandel der Welt, die steigende Komplexität, die zunehmenden Unklarheiten aber müssten dem gebürtigen Iraner zufolge Führungskräfte, Direktoren, Lehrer adäquat reagieren. Ein jeder, sagte Mahlodji, müsse verstehen, was in der Welt geschehe, um zu einem Mentor werden zu können: „Zu einem Mentor, der die Kinder und Jugendlichen ermächtigt, in die Selbstverantwortung des Lebens kommen zu können. Sie müssen die Weisheit im Umgang mit dem Leben von jemandem erfahren.“ Beziehungsarbeit ist für ihn in diesem Sinn „nur ein anderes Wort für Bildung“.
Der Unternehmer erzählte an dieser Stelle eine Geschichte. Von einem Jugendlichen aus prekären Familienverhältnissen, mit migrantischem Hintergrund, der stotterte und keine Unterstützung hatte, und mit miserablen Noten die Schule abbrach, um fortan in diversen Handlanger-Jobs zu arbeiten. Eines Tages habe dieser Bub zufällig den einzigen Lehrer getroffen, der sich in der Schule für ihn interessiert hatte. Und der Lehrer habe gesagt: „Informatik hat Dir doch immer Spaß gemacht. Mach’ was draus!“ Der Teenager griff die Idee auf, setzte sich zum Spott seiner Freude abends an den Computer. Schaffte die Abendmatura. Dann ein berufsbegleitendes Studium. Und wurde mit 27 Jahren bei einem US-Software-Unternehmen Manager. Der Name des jungen Mannes? Ali Mahlodji. „Ich habe damals die Gnade eines Lehrers erlebt, der in mir mehr gesehen hat als alle anderen.“
Doch wie oft sehe man junge Menschen an, und denke sich: „Aus dem wird nichts!“ Die Kunst der in Bildung und Ausbildung Tätigen sei es, „den Menschen nicht so zu behandeln, wie er ist – sondern so wie er sein könnte.“ Schaffe man das nicht, fügte der Referent an, „dann ist man im falschen Job.“ Seine Fragen: „Wie gehen wir mit dem Schicksal der jungen Menschen um? Wie sehr sehen wir das Potenzial und die Möglichkeiten jedes Einzelnen?“
Natürlich könne nicht jeder ein Studium beginnen, aber jedem jungen Menschen müsse das Gefühl vermittelt werden, nach der Schule mutige Zukunftsentscheidungen treffen zu können. Doch dafür müsse man in der Schule dreierlei gelernt haben: „Eine Fehlerkultur. Experimentierfreude. Und die Möglichkeit, Bestehendes hinterfragen zu können.“ Es geht also um Selbstermächtigung, und darum, die junge Generation in diesem Sinn zu befähigen: „Wollen wir die Welt einer Zukunft überlassen, die von anderen geschrieben wird? Bildung hat ein Ziel: Uns handlungsfähig zu machen.“

„Die coolste Person“
Mahlodji abschließender Appell an das Publikum, an all die Lehrer und Lehrerinnen, lautete: „Ihr könnt Euch wahrscheinlich noch alle an den schlimmsten Lehrer in Eurer Schulzeit erinnern. Ihr könnt Euch aber auch an die coolste Person damals erinnern. Versucht, dieser Lehrer zu sein, von dem die Menschen später sagen, es war früher nicht immer leicht. Aber da hat es diese eine Person gegeben, die mich gesehen hat, wie ich bin. Versucht der Erwachsene zu werden, der Euch vielleicht selbst in Eurer Jugend gefehlt hat. Versucht der Mensch zu sein, der andere berührt.“

Computer lernen, wir verstehen
Was passiert im Gehirn eines Menschen, wenn er lernt? Wie unterscheidet sich der Mensch dabei von künstlicher Intelligenz? Und was bedeutet das für die Art und Weise, wie wir in Zukunft lernen und lehren sollen, um tatsächlich das Beste aus unserem Gehirn zu machen? Fragen wie diese beantwortete anschließend der Biochemiker und Neurowissenschaftler Hennig Beck in seinem Vortrag. Wobei der Hirnforscher dabei auf einen entscheidenden Unterschied aufmerksam machte – auf den Unterschied zwischen lernen und verstehen. „Computer lernen, wir verstehen“, sagte der Deutsche, „der Mensch ist keine datenverarbeitende Maschine.“ Ein simples Beispiel zur Illustration des Gesagten?
Google fütterte einen selbstlernenden Algorithmus mit zehntausenden Katzen-Videos; am Ende konnte die KI mit 74,8-prozentiger Sicherheit sagen, ob nun in einem Video eine Katze zu sehen ist, oder nicht. „Der Sohn meines Nachbarn ist drei Jahre alt“, sagte Beck schmunzelnd, „der weiß hundertprozentig, ob nun in einem Video eine Katze zu sehen ist. Und dafür muss man ihm nicht erst tausende Bilder zeigen.“ Der Rat des Wissenschaftlers an dieser Stelle? „Verwechseln Sie niemals Informationen mit Wissen. Die wichtigste Eigenschaft des Menschen ist nicht die Fähigkeit, zu lernen. Es ist die Fähigkeit, zu verstehen.“

Die eigentliche Frage
„Die Ironie der heutigen Zeit ist, dass wir von Menschen verlangen, sich wie Maschinen zu benehmen“, sagte Beck. Man sage, die Menschen müssten konzentriert arbeiten, effizient bleiben, keine Fehler machen, nicht abschweifen: „All diese Tätigkeiten sind prinzipiell keine menschlichen Tätigkeiten, die könnten sie algorithmisieren.“ Das schönste Zitat, das er in diesem Zusammenhang kenne, stamme vom deutschen Computerpionier Konrad Zuse. Der hatte schon vor 30 Jahren gesagt: „Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer.“
Das allerdings, fügte der Hirnforscher an, „ist die eigentliche Frage, die man sich im 21. Jahrhundert stellen muss: Welche Art von Denken wollen wir haben?“ Intelligenz ist in seinem Verständnis nicht die Fähigkeit, ein Problem optimal zu lösen, Intelligenz bedeute „neue Regeln aufzustellen, Sachen zu hinterfragen, etwas auszuprobieren, etwas zu testen.“ Und da treffen sich quasi Hirnforschung und Bildung. In den Schulen werden die Menschen Beck zufolge „wie lebende Festplatten“ behandelt, auf denen Wissen gespeichert werden soll: „Und dann wundern wir uns, dass Menschen, die aus der Schule herauskommen, im Leben dann unfertig sind? Man hat ihnen ja nie beigebracht, in eine aktive Rolle zu kommen und selbstständig nachzudenken. Wer die Menschen passiv hält, degradiert sie in ihrem Denken.“ Beck betonte nochmals den Unterschied zwischen lernen und verstehen: „Was wir lernen, können wir auch wieder verlernen. Aber was wir einmal verstanden haben, können wir nicht wieder ent-verstehen.“

Eine aktive Rolle
Entscheidend ist dabei, die Neugier zu wecken; ein Fragezeichen im Unterricht für Beck deshalb das beste Symbol. Beck erwähnte an dieser Stelle ein gutes, ein vorbildhaftes Beispiel aus seiner Schule, aus dem Geschichtsunterricht. „Da kam unser Lehrer zur Tür herein, und sagte zu uns: Ich bin jetzt Papst. Und ihr seid meine Berater. Wir antworteten: Wie bitte? Er sagte: Ich bin Papst im 11. Jahrhundert, der König nimmt mich nicht ernst, was soll ich tun? Wir begannen zu überlegen.“ Im Endeffekt lief diese Unterrichtsstunde auf den Gang nach Canossa hinaus. Von der damaligen Unterrichtsstunde zehre er heute noch, wenn er Nachrichten schaue, erkenne er, dass es in der Geopolitik im Moment nur darum geht, Macht zu demonstrieren.“
Das Fragezeichen, das Spiel, das Rätsel, das brachte die Schüler in die aktive Rolle, selbst nachzudenken; sie verstanden und verstehen noch heute, was ein Canossagang ist. Wer dagegen nur Lösungen aufzeigt, die damalige Episode etwa auf eine trockene Zahl im Geschichtsbuch reduziert, der passiviert die Menschen. „Gute Bildung“, sagte Beck, „kann alles sein. Sie kann überraschend sein, sie kann lustig sein. Aber eines darf sie nie sein: einfach.“ Im Jubiläumsjahr von Immanuel Kant erwarte er sich, „dass Menschen in der Lage sind, sich selbständig und aktiv mit den Problemen auseinanderzusetzen.“ Und sein Schlusswort? „Wen will ich haben? Will ich einen Test-Knacker, der jetzt einen Test besteht, oder will ich einen Menschen, der auch zehn Jahre später noch imstande ist, mit seinem Wissen etwas Neues zu machen?“ Der also: Nicht gelernt, sondern verstanden hat. 

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