Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Feinde eines guten Systems

September 2015

Im Ausland wird Österreich für die duale Ausbildung regelrecht bewundert. Vorarlberg ist österreichweit Spitzenreiter, hat mit der höchsten Lehrlingsquote mit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Österreich. Doch auch hierzulande gehen die Lehrlingszahlen zurück. Und das führt zu einer Diskussion mit Pauschalurteilen, falschen Argumenten und fatalen Folgen.

Im Bundesrat fand vor wenigen Monaten eine parlamentarische Enquete zur Zukunft der Lehre statt. Allerlei Experten waren geladen, unter ihnen auch Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Der Schweizer sagte, etwas undiplomatisch, aber voller Überzeugung: „Ausländische Besucher von den Vorteilen der Berufsbildung überzeugen zu wollen, wenn gleichzeitig die Meinungsmacher im eigenen Land daran zweifeln, ist doch etwas schwierig.“ Was der Ökonom da ansprach, ist in der Tat eine skurrile Situation: Während unser Land im Ausland für die duale Ausbildung bewundert wird, reden hiesige Meinungsmacher selbige schlecht. Delegationen aus ganz Europa sehen sich die Lehre vor Ort an. Hiesige Experten unterstützen Spanien, Frankreich und Portugal. Erst jüngst wurden, mit österreichischer Hilfe, duale Lehrlingssysteme in Kroatien und Serbien, auf Malta und in Moldawien implementiert. Auch Irland will die duale Ausbildung übernehmen – dieser Tage besuchte eine Delegation Österreich. Ausländische Zeitungen und Magazine sind voll des Lobes, eine US-Zeitschrift schrieb gar vom „Austrian Miracle“, vom österreichischen Wunder, und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtete, dass Österreich als „Vorbild in der europäischen Arbeitsmarktpolitik“ gelte.

Dokumentierte Vorteile

Rudolf Strahm, ein Schweizer Politiker und Ökonom, hat in seinem 2014 erschienenen und viel beachteten Buch „Die Akademisierungsfalle“ nachgewiesen, wie gering die Jugendarbeitslosigkeit in jenen Ländern ist, die auf die duale Berufsausbildung setzen. „Die wenigen Länder Europas, die ein duales Berufsbildungssystem kennen, also eine Kombination von betrieblicher Berufslehre mit öffentlicher Berufsfachschule, stehen in Bezug auf Konkurrenzfähigkeit, Wirtschaftskraft und Jugendarbeitslosenquoten am besten da“, schreibt Strahm. Während die fünf Berufsbildungsländer Schweiz, Deutschland, Österreich, Niederlande und Dänemark im ersten Quartal 2014 eine durchschnittliche Jugendarbeitslosenquote von neun Prozent verzeichneten, lag sie im Durchschnitt aller 28 EU-Mitgliedsländer bei 23 Prozent.

Dramatische Situation in Europa

Jüngsten Daten zufolge ist jeder zweite Jugendliche in Griechenland und Spanien arbeitslos, ähnlich dramatisch ist die Situation in Kroatien und Italien, im EU-Schnitt steht jeder fünfte unter 25-Jährige ohne Job da. Österreich weist mit 10,1 Prozent dagegen die EU-weit drittniedrigste Jugendarbeitslosigkeit auf, hinter Deutschland und Dänemark. „El Pais“, eine spanische Tageszeitung, fragte nach dem „Geheimnis der geringen Jugend­arbeitslosigkeit in Österreich“, Strahm hat die simple Antwort: „In Ländern ohne duale Berufsausbildung werden Menschen an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes vorbei ausgebildet.“

Das zeigt sich auch im österreichweiten Vergleich, sagt AMS-Vorarlberg-Chef Anton Strini: „Im Burgenland ist die Jugendarbeitslosigkeit höher als in Vorarlberg, weil in Vorarlberg der Run in die Lehre höher ist.“ Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt im Burgenland 8,2 Prozent – in Vorarlberg nur 4,9 Prozent.

Ein Erfolgsmodell

Die Lehrlingsquote in Vorarlberg ist hoch, die höchste in ganz Österreich, traditionell und nach wie vor. Seit Jahren entscheidet sich jeder zweite Vorarlberger Jugendliche für die Lehre, während sich im österreichischen Schnitt nur 40 Prozent und in Wien, im eben erwähnten Burgenland oder in Niederösterreich gar nur jeder Dritte für diesen Ausbildungsweg begeistern können. Vorarlberg hat, auch das sei erwähnt, den höchsten Anteil an ausbildenden Betrieben. Klar: Vorarlberg als stark exportorientiertes Land mit all seinen innovativen Unternehmen hat einen hohen Bedarf an Fachkräften, an gut ausgebildeten Lehrlingen – und deswegen auch ein hohes Interesse daran, möglichst viele Jugendliche in die duale Ausbildung zu bringen. „Lehrabsolventen, die hervorragend ausgebildete Fachkräfte sind, sind der Nährboden für eine positive Entwicklung des Wohlstands, sind ein entscheidender Faktor des Wirtschaftsstandorts“, sagt Wirtschaftslandesrat Karlheinz Rüdisser.

Von wegen Imagepflege

Allerdings sinkt die Zahl der Jugendlichen seit Jahren – allein von 2009 auf 2014 zählte die Landesstatistik 1249 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren weniger. Und mit der Zahl der Jugendlichen sinkt auch, in engem statistischen Zusammenhang, die Zahl der Lehrlinge.

Ergo müssten hiesige Meinungsführer ein fundamentales Interesse haben, Imagepflege zu betreiben, um mehr Jugendliche für diesen Weg der Ausbildung zu begeistern. Stattdessen wird die sinkende Zahl an Lehrlingen auf eine angeblich schlechte Qualität der Lehre zurückgeführt – und damit das Image der Lehre hierzulande sukzessive schlechtgeredet. Die Arbeiterkammer etwa propagierte wochenlang, dass die Lehre „absandle“. Politiker sprachen öffentlich von einer dramatischen Situation, gar von einer Notlage, Medien spielen das Spiel mit. Argumentiert wird mit falschen Zahlen, falschen Argumenten, ungeprüften Behauptungen und Pauschalurteilen. Alle diese Kritiker verschweigen dabei, dass der Lehrstellenmarkt zwar wie jeder andere gesellschaftliche Bereich auch Veränderungen unterworfen ist und es Herausforderungen gibt, dass der Lehrlingsschwund aber auf die demografische Entwicklung, den anhaltenden Trend zur Akademisierung, den Einfluss der Eltern und auf dokumentierte Versäumnisse im Pflichtschulbereich zurückzuführen sind.

Spiel mit der Statistik, Teil eins

Die jüngste Aktuelle Stunde im Landtag war exemplarisch für diese imageschädigende Debatte. Christoph Bitschi, ein Freiheitlicher, hatte sich auf den jüngsten Lehrlingsbericht von Egon Blum berufen und gesagt: „Die Realität in der Lehrstellenentwicklung ist schlichtweg furchterregend und dramatisch, es herrscht Notstand.“ In Vorarlberg habe es im Vorjahr 746 Lehrlinge weniger gegeben als noch 2008. Bitschi sagte in der Debatte nur das Entscheidende nicht dazu: Im Vorjahr hatte es auch exakt 1243 weniger Jugendliche zwischen 15 und 17 als noch 2008 gegeben. Lehrlinge und Demografie gehen eben Hand in Hand. Und wenn man schon die Statistik bemüht, hätte man auch Jahre vergleichen können, in denen es ungefähr gleich viel Jugendliche gegeben hatte – beispielsweise die Jahre 2002 und 2014. Denn da ist die Statistik eine vollkommen andere: 2002 hatte es im Land bei 13.799 Jugendlichen im entsprechenden Alter 7201 Lehrlinge gegeben, 2014 bei 13.554 Jugendlichen 7542 Lehrlinge – also mehr Lehrlinge bei weniger Jugendlichen. Wirtschaftslandesrat Karlheinz Rüdisser mahnte eindringlich: „Es gibt Herausforderungen, aber wir sollten uns auch nicht schlechter machen, als wir sind – weil das psychologisch miserabel ist.“

Spiel mit der Statistik, Teil zwei

Apropos psychologisch miserabel und falsche Argumente, nächstes Beispiel: Die Durchfallsquote bei den Lehrabschlussprüfungen. Die österreichische Presseagentur hatte eine Statistik veröffentlicht, die schlichtweg auf falschen Parametern beruhte, von den Medien aber ungeprüft übernommen wurde. Ergo wurde österreichweit vermeldet, dass 2014 nahezu jeder fünfte Lehrling (18,3 Prozent) durch die Lehrabschlussprüfung gefallen und die Durchfallsquote im Vergleich zu 2013 gestiegen sei. Das ist schlichtweg falsch. In Wahrheit hat sich die Situation in Österreich sogar leicht verbessert, hatten doch im Vorjahr 85,9 Prozent aller Lehrabsolventen aus heimischen Ausbildungsbetrieben die Prüfung beim ersten Antreten geschafft. (Übrigens haben heuer in Vorarlberg nur 81 Prozent die AHS-Matura beim ersten Antritt bestanden.) Wenn man das mögliche mehrmalige Antreten miteinrechnet, haben 95,4 Prozent (!) der Lehrlinge die Prüfung geschafft und damit ihre Lehrzeit positiv abgeschlossen.

Anders formuliert: Nur knapp fünf Prozent der Lehrlinge schaffen die Prüfung nicht. Man hätte also titeln müssen: Nur jeder 20. Lehrling fällt durch die Lehrabschlussprüfung. Und im Landtag hätte man sagen müssen: Es gibt weniger Jugendliche und damit weniger Lehrlinge. Aber lasst uns doch Wege suchen, um beispielsweise mehr Mädchen in die Lehrausbildung zu bringen, lasst und darüber diskutieren, wieso viele Jugendliche nach Absolvierung der Pflichtschule kaum sinnerfassend lesen können und Grundrechnungsarten nicht beherrschen, lasst uns Wege suchen, wie wir mehr Eltern von den Vorzügen der Lehre begeistern können.

Die Sache mit der Psychologie

Gerade das Elternhaus spielt bei der Berufswahl eine entscheidende Rolle. Und da wirken sich die Negativkampagnen mit Sicherheit negativ aus. „Wenn im Titel steht, dass die Lehre absandelt, dann sandelt die Lehre eben ab“, sagt Liebherr-Geschäftsführer Manfred Brandl, „solche Aussagen sind zutiefst imageschädigend.“ In der Psychologie sagt man, dass Menschen vom Prinzip her positive Zustände erreichen und negative vermeiden wollen, und in der Wirtschaftspsychologie wird gelehrt, dass Image auf der Gefühlsebene entsteht, wobei Informationen und Wahrnehmungen anderer den Gesamteindruck mitprägen können. „Wer das Image der Lehre beschädigt, schadet dem Wirtschaftsstandort Vorarlberg und damit auch der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung“, warnt Christoph Jenny, Leiter der Lehrlingsstelle in der Wirtschaftskammer Vorarlberg. „Aussagen, wonach die Lehre absandle, sind kontraproduktiv“, sagt auch AMS-Chef Strini. „Man sollte das nicht schlechtreden“, appelliert auch Wirtschaftslandesrat Rüdisser, „weil das Image der Lehre ein entscheidender Faktor ist.“ Der Theorie folgt da die Praxis.

Eltern, die all diese Negativmeldungen registriert haben, wonach die Lehre absandle, die Situation dramatisch sei, die Qualität der Ausbildung sinke und derart viele durch die Abschlussprüfungen fallen würden, werden ihre Kinder im Zweifelsfall dann doch eher in eine höhere Schule und nicht in die Lehre schicken. Das ist der entscheidende Punkt! Der Trend zur Akademisierung ist, harsch gesprochen, der wahre Feind der Lehre. Jahrelang wurde argumentiert, dass Österreich zu wenige Akademiker habe und mehr Jugendliche in höhere Schulen gehen sollten. „Im Wettbewerb mit der Schule hat die Lehre tendenziell einen etwas schlechteren Stand“, sagt Jenny.

Ein falscher Weg

„Wenn die Jahrgänge immer weniger 15-Jährige hervorbringen, tritt die Lehrlingsausbildung immer stärker in Konkurrenz mit der Schule – es entsteht ein Gerangel um die kleiner werdende Alterskohorte“, erklärt Thomas Mayr vom Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft. Meinhard Miegel, renommierter deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist, sprach in einem Interview vor Kurzem Klartext: „Weil man das Potenzial an Menschen mit guten Voraussetzungen nicht vergrößern kann, ist doch klar, was passieren muss, wenn alle halbwegs Begabten eine akademische Karriere einschlagen: Sie fehlen dann in der beruflichen Ausbildung.“ Ein wahrer Teufelskreis, denn in den Universitäten sitzen laut Miegel „dann wieder viele junge Menschen, die nachher Mühe haben, einen Beruf zu ergreifen, der zu ihrer akademischen Ausbildung passt“. Es sei geradezu „frivol, wenn mit großem zeitlichen und finanziellen Aufwand Leute in Bereichen ausgebildet werden, für die es keine adäquaten Jobs gibt“.

Die Folgen sind gravierend. Strahm zufolge haben „die europäischen Länder mit den höchsten Maturitäts-/Abitur- und Hochschulquoten die höchste Arbeitslosigkeit“. 68 Prozent der jungen Griechen haben Matura, jeder zweite hat keinen Job. 75 Prozent beträgt die Maturitätsquote in Italien, nahezu jeder zweite junge Mensch ist erwerbslos. Selbst Finnland dient da als Negativbeispiel: Im Land des PISA-Tabellenführers haben 96 Prozent (!) der unter 25-Jährigen zumindest Matura. Die Jugendarbeitslosigkeit dort liegt stetig zwischen 18 und 20 Prozent.

Warum ist das so? Strahm sagt: „Viele, die am Arbeitsmarkt nicht unterkommen, haben eine gute Bildung, ja oft sogar eine Hochschulbildung. Doch sie haben die falsche Ausbildung, eine, die nicht gebraucht wird, sie werden an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes vorbei ausgebildet.“ Länder ohne duale Berufsausbildung hätten zu viele akademisch Gebildete und zu wenige praktisch Ausgebildete und in der Folge eben signifikant höhere Arbeitslosenquoten: „Die Bildungselite erliegt der sozialen Illusion, dass eine höhere Bildung automatisch auch eine bessere berufliche Karriere mit sich zieht.“ Übrigens kann man, nur um das Gesagte zu illustrieren, in Italien beispielsweise „diplomierter Schweißer“ an einer Hochschule lernen – ohne je in der Praxis gearbeitet zu haben.

Ein hoher Anteil

Apropos Praxis: Vorarlberg hat österreichweit den höchsten Anteil an ausbildenden Betrieben. Der Saldo ist positiv: Zwar hatten sich von 2013 auf 2104 insgesamt 105 Betriebe aus der Lehrlingsausbildung verabschiedet, aus verschiedenen Gründen – dafür haben vergangenes Jahr 238 Betriebe erstmals Lehrlinge ausgebildet. Nun mag es beim einen oder anderen schon hapern, der Lehrlinge ausschließlich als billige Arbeitskräfte sieht und deren Ausbildung sträflich vernachlässigt. Auch Strini sagt, dass es beides gebe – viele Top-Ausbildungsbetriebe am einen und wenige Negativbeispiele am anderen Ende der Skala, die sich besser von der Ausbildung verabschieden sollten.

Jedes fünfte Unternehmen in Vorarlberg gilt dank der Erfüllung strengster Kriterien als „ausgezeichneter Lehrbetrieb“. Diese ausgezeichneten Lehrbetriebe bilden insgesamt 44 Prozent aller Vorarlberger Lehrlinge aus. Liebherr gilt als größter Ausbildungsbetrieb im Oberland und legt höchsten Wert auf eine qualitativ hochwertige Ausbildung. 60 Prozent der von Liebherr ausgebildeten Lehrlinge bleiben oder kommen später zum Unternehmen zurück, 40 Prozent werden für den Wirtschaftsstandort Vorarlberg ausgebildet, in Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung. Das Pauschalurteil, wonach die Lehre absandle, hört man in Nenzing also nicht sonderlich gerne – zurückhaltend formuliert. „Image“, sagt Brandl, „entsteht durch Aussagen vieler Persönlichkeiten in der Gesellschaft. Deswegen können wir gar nicht genügend Botschafter haben, die positiv für unsere bewährte duale Ausbildung sprechen.“ Das darf dann ruhig auch als Aufforderung an hiesige Meinungsmacher verstanden werden. Ende September findet im Landhaus ein Lehrlingsgipfel statt – mit Landeshauptmann Markus Wallner und den Sozialpartnern.

Unser Standpunkt:

Es ist unverantwortlich, ein gutes System ohne Notwendigkeit schlechtzureden.

 

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