Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Jugend muss man beflügeln“

November 2015

Fächergrenzen überwinden, Schüler nicht mit zu viel Wissen überfrachten: Oskar Müller (56), Rektor der Fachhochschule Vorarlberg und promovierter Mathematiker, wünscht sich Bewegung in der Bildungspolitik – und anstelle ständiger Strukturdebatten endlich auch inhaltliche Diskussionen.

Wie beurteilen Sie die bildungspolitische Situation in unserem Land?

Die bildungspolitische Situation ist geprägt von verschiedenen Vorstellungen, mit der Folge, dass man sich gegenseitig in Schach hält und damit eine stabile, aber verfahrene Situation geschaffen hat. Auch wenn es mittlerweile einige neue und positive Aktivitäten gibt, wäre es aus meiner Sicht doch wünschenswert, wenn sich das System endlich über Maria Theresia hinausbewegen würde.

Welche positiven Ansätze sind das?

Ich bin beispielsweise sehr konkret mit der Vorarlberger Mittelschule Hard-Markt in Kontakt gekommen, dort geht engagiertes Lehrpersonal neue Wege. Es gibt im ganzen Bundesgebiet ambitionierte Ansätze, beispielsweise in Ybbsitz, einem kleinen Ort in Niederösterreich.

Aber insgesamt …

Insgesamt? Wie gesagt: Bewegung wäre wünschenswert. Denn der Status quo des Bildungssystems stammt aus dem 18. Jahrhundert. Allein schon das Schubladensystem der Fächer! Der im Militär damals beim Exerzieren und in der Offiziersausbildung praktizierte Takt wurde ins Schulsystem übernommen. Das gilt heute noch! Diese Einteilung zu überwinden, die Fächergrenzen zu überschreiten, das wäre ein großer Fortschritt. Man müsste das Wissen, das damals in bibliothekarische Schubladen gesteckt worden ist, heute doch endlich als Teil eines großen Ganzen sehen und begreifen. Mathematik ließe sich beispielsweise im Werkunterricht konkret anwenden. Bauen wir doch beispielsweise einen Winkelmesser aus Holz und vermessen gemeinsam ein konkretes Gebäude! Oder lernen den Satz des Pythagoras und gleichzeitig Geschichte! Und noch etwas: Unser Schulsystem ist bemüht, jungen Menschen möglichst viel Wissen wie über einen Nürnberger Trichter hineinzudrücken. Und das ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn man bei der Ausbildung eines Kochs diesen zwingen würde, an einem Abend die ganze Speisekarte eines Restaurants durchzuessen. Schüler dürfen nicht überfrachtet werden!

Und der Vorteil einer Überwindung der Fächergrenzen wäre?

Man würde Generalisten bilden mit Blick auf das Ganze und mit einem Potenzial für vielfältige spätere Abzweigungen. Nebst der Überwindung der Fächergrenzen wünsche ich mir eine Fehlerkultur. Soll heißen: Man darf scheitern, man muss aber auch wieder aufstehen und einen Neuanfang wagen können. Das Feedback in den Schulen soll nicht darauf beschränkt sein, zu kritisieren, was Schüler falsch gemacht haben. Jugendliche muss man beflügeln! Und das geht nur, wenn wir ihnen Erfolgserlebnisse geben, keine Frustrationen. Im Übrigen ist gute Ausbildung für mich die kon­struktive Überwindung der Lehrpersonen. Das ist im positiven Sinn zu sehen. Autonom zu sein in seinen Standpunkten bedingt die erfolgreiche Überwindung von Personen, die einen lange an der Hand gehalten haben! „Lernen ist Vorfreude auf sich selbst“, stellte der Philosoph Peter Sloterdijk vor einigen Jahren in einem Interview fest. Stellen wir uns doch dem Auftrag, Menschen, die unsere Zukunft tragen werden, die Vorfreude auf sich selbst zu erhalten.

Gretchenfrage: Sind Sie für oder gegen die Gesamtschule?

Nun, Gesamtschule ist prinzipiell ein Begriff, unter dem alles möglich ist. Man kann auch eine Gesamtschule in alle Richtungen lenken, positiv wie negativ. Zuerst ist daher festzulegen, was das Ziel sein soll und wie man dieses Ziel erreicht – und dann erst kann über eine sinnvolle Struktur nachgedacht werden. Wer zuerst über die Struktur redet, zäumt das Pferd von der falschen Seite auf. Und was an mein Ohr dringt, ist leider nur eine beständige Strukturdiskussion.

Und in der Sache …

Aus meinen eigenen Beobachtungen würde ich schon prinzipiell begrüßen, wenn für junge Menschen nicht zu früh die Weichen gestellt werden, wenn sie sich nicht zu früh entscheiden müssten, ob sie nun – bildlich gesprochen – nach Norden oder Süden gehen wollen. Jeder sollte die Möglichkeit haben, ausreichend die nötigen Erfahrungen zu sammeln. Das kann für das gesamte System nur hilfreich sein.

Die Fachhochschule hat selbstredend Interesse an guten Schülern.

Natürlich! Wir wünschen uns gut ausgebildete Jugendliche, die Neugierde mitbringen, deren Ziele nicht ausschließlich in guten Noten bestehen, sondern die eine fragende, kritische Grundhaltung mitbringen und sich nicht scheuen, in eine gute Diskussion einzutreten.

Vielen Dank für das Gespräch!

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