Lisa Hämmerle

Friedens- und Konfliktforscherin
Foto: Florian Brunold

Es tut mir leid zu hören, dass es bei Ihnen keine Konflikte gibt!

Juni 2023

Misstrauen macht sich breit, wenn mir jemand selbstsicher erzählt, dass er oder sie keine Konflikte erlebt. Im ersten Moment bin ich mir nicht sicher, ob die Person versucht, mich davon zu überzeugen oder sich selbst; vielleicht auch beide. Im zweiten Moment frage ich mich, ob mein Gegenüber und ich dasselbe Verständnis von Konflikt teilen. Im dritten Moment, unabhängig von den Antworten, setzt eine Emotion ein, die sich zwischen Verwunderung, Entsetzen und Empörung bewegt. Doch hinter diesen Sekundäremotionen verbirgt sich die Trauer und Trauer gibt uns zu verstehen, dass etwas fehlt. In diesem Fall, eine gelebte Konfliktkultur. 
In Nordirland habe ich gelernt, dass in der Hitze des Gefechts – besonders in einem bewaffneten Konflikt – das Schaffen von Distanz zwischen Konfliktparteien entscheidend sein kann. In Belfast wurden 1969 Friedensmauern errichtet, die bis zum heutigen Tag stehen. Frieden und Mauern waren in meinen Augen bis dahin ein Widerspruch. Mir wurde jedoch schnell klar, dass heftige Emotionen wie Hass, Wut und Angst zuerst abklingen, gegebenenfalls behandelt werden müssen, bevor konstruktiver Dialog zwischen Konfliktparteien möglich wird. Es funktioniert nicht, Akteure zum Dialog oder gar zu einer Beziehung zu zwingen, sondern verschlimmert die Situation gravierend. Die Kehrtwende in Konflikten liegt in der freiwilligen Entscheidung, sich dem Konflikt und somit der Person wieder zuzuwenden – die Entscheidung, sich auf diese Person trotz aller Streitigkeiten hinzubewegen; frei von Pflichtgefühl und Moral. Eine empathische Konfliktkultur bereitet den Boden für diese Kehrtwende. 
Die Distanz zur anderen Konfliktpartei schafft Raum, um sich dem tobenden Konflikt in uns selbst zu widmen. Ob wir das Feuer weiter brodeln lassen oder gewillt sind, ihm das Brennholz zu entziehen, liegt in unserer eigenen Hand. Am schwierigsten ist es, wenn wir selbst die Person sind, der es gilt, ins Gesicht zu blicken. Die Mauer, zu sich und zur anderen Konfliktpartei abzutragen, ist ein Kraftakt, den es erfordert, um aus den Trümmern einen Garten zu errichten. An diesem Ort treffen sich Konflikt, Konflikttransformation und Konfliktkultur.
Ein Garten, die Natur, bildet die Grundlange, um Leben und somit Konflikte entstehen zu lassen. Sind alle Bedingungen bereitgestellt, die das Samenkorn einer Pflanze aufbrechen lassen, beginnt Leben und somit Konflikt. Die heranwachsende Pflanze ist jeder Witterung ausgesetzt, von Sonnenschein, Regen, Schnee, Wind, bis Hitze und Kälte. Ihre Verwurzelung, Stabilität und Widerstandsfähigkeit legen den Grundstein, um an den Witterungen, sprich Konfliktsituationen, zu wachsen. Konflikt ist dabei schlicht eine Unterbrechung des Status-quo, neutral, weder negativ, noch positiv, aber immer Chance für Veränderung. Wie sonst sollte eine Blume wachsen, wenn sie nicht mit Wärme und Wasser in Berührung kommt, wenn sie keinen Konflikten ausgesetzt ist? Beim Menschen ist es nicht anders.
Die Konflikttransformation geht davon aus, dass Konflikt ein natürlicher Teil der menschlichen Erfahrung ist. Konflikt ist organisch und daher der Permanenz der Veränderung unterworfen. Dabei stellt die Konflikttransformation die Beziehungsebene ins Zentrum. Meist sind Konflikte an eine zwischenmenschliche Beziehung geknüpft, sei es in der Familie, in Unternehmen oder zwischen Staaten. Eine Beziehung verlangt daher weniger nach (Konflikt)Lösung, sondern mehr nach (Konflikt)Transformation. Es sei denn, die Konfliktparteien entscheiden sich die Beziehung langfristig auf-zu-lösen. Die Konflikttransformation setzt sich zum Ziel einen ungewünschten Zustand zu beenden und zugleich einen gewünschten Zustand zu schaffen. Das Sprichwort „aus einer Krise gestärkt hervorgehen“ appelliert genau an diese Transformation – die intrapersonelle, aber auch die interpersonelle.
Eine konstruktive, gewaltfreie Transformation ruft nach einer Konfliktkultur. Kultur beinhaltet Werte-Haltungen, Verhalten, Sprache, Essen und Traditionen. In anderen Worten: Kultur ist unsere Lebensweise. Eine Konfliktkultur sieht Konflikt nicht als Bedrohung per se, sondern als Chance, um auf die Herausforderungen unserer Zeit angemessen zu reagieren. Das Herzstück einer Konfliktkultur ist das Verhalten, welches darauf abzielt, die andere Person zu verstehen und Dialoge zu führen. In einer Konfliktkultur wird materielle und mentale Nahrung bereitgestellt, die lebensförderlich wirkt, unsere Konzentration und Gehirnleistung, aber auch unser psychisches Wohlbefinden, steigert. Eine Konfliktkultur lebt Traditionen und zelebriert Feste, die die Menschen verbindet und nicht trennt. Sie schafft Räume der Begegnung – unabhängig von Herkunft, Identität, Kultur, Alter, Geschlecht, Status und Aussehen.
Um eine Konfliktkultur zu schaffen, braucht es Kultivatoren, Konfliktbearbeiter und Konfliktbearbeiterinnen, die in erster Instanz als Konfliktanlaufstelle fungieren und von/in der Politik sowie in Unternehmen installiert werden. In zweiter Instanz vermitteln diese Fachpersonen ein ganzheitliches Verständnis von Konflikt, damit die Angst davor versiegt und konstruktive Konfliktbearbeitung möglich wird. In dritter Instanz, scheuen sich Konfliktbearbeiter nicht davor, sich im Garten die Hände schmutzig zu machen. Rodung soll das letzte Mittel sein, denn in der menschlichen Sprache bedeutet das Zwang und Gewalt, wenn nicht sogar Krieg. Wuchert der Garten bereits, steckt er tief in der Krise, braucht es vor allem Pflege, Geduld, Zeit und eine Vision: Wie wünschen Sie sich, dass unser gemeinsamer Garten in der Zukunft aussieht? Weniger Trauer und mehr Freude an einer Konfliktkultur, die Konflikt als Quelle sieht, um unser Leben aktiv, bewusst und friedvoll zu gestalten, das ist meine Vision. Hier sind wir alle gefragt.

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