
Die Ostis und das unentdeckte Land im Westen
Es ist erstaunlich, wie wenig die Ostösterreicher von Vorarlberg wissen und wie selten sie sich hertrauen. Meistens sind sie dann positiv überrascht. In umgekehrter Richtung ist viel mehr los – und es gibt etwas Unerwartetes.
Von Arne, einem Freund aus der Innsbrucker Studentenzeit, stammt ein legendärer Spruch. Der Salzburger reiste 1991 oder 92 in Begleitung von Vorarlberger Freunden erstmals ins Ländle. Nach dem Arlbergpass stoppten sie in Stuben. Wo er in einem Laden fragte: „Kann man hier noch mit Schilling zahlen?“
Okay, das war ein Scherz, die Verkäuferin hat gelacht. Arne war Anfang 20 beim Ländle-Erstkontakt. Als jemand, der seit 25 Jahren im Wiener Raum lebt, kann ich sagen: Da war er früh dran! Denn es ist unglaublich, wie wenige von denen in der Ostregion schon in Westösterreich waren, speziell in Vorarlberg. Und es geht um Leute jenseits der 30, 40, ja 50, die in der Welt herumkamen, von Malle über irgendeinen Club Magic Life in Kleinasien bis New York, denen aber die kaum 500 Kilometer Luftlinie beziehungsweise etwa sechs Stunden von Wien nach V offenbar vorkommen wie eine abschreckende Reise zum Leuchtturm am Ende der Welt.
Klare Zahlen gibt’s kaum (siehe aber unten), doch gefühlsmäßig haben sich weit weniger als zehn Prozent derer, die ich im Oschten kennenlernte, nach Westösterreich gewagt, Tirol oft inkludiert. Speziell der Wiener Horizont endet meist bei Salzburg, ja oft schon am Stadtrand, weil sie sich vor der niederösterreichischen Pampa fürchten und die un-urbanen Leute dort gern belächeln. Sogar die ORF-Wetterkameras fürchten sich vor üsrem Ländle: Noch in Tirol senden sie gefühlt aus jedem zweiten Tal. Von V sieht man in der Regel nur Lech/Zürs und eventuell die Bergstation am Sonnenkopf im Klostertal. Wieso traut man sich nicht bis Feldkirch oder auf Aussichtspunkte auf der Bazora, Am Lank und am Pfänder für Blicke übers Dreiländereck – ist das für die im Osten zu viel Westen, oder zu international?
Ich besuche derzeit einen Kurs; von den 13 Kurskollegen im Alter von etwa 20 bis Mitte 50, fast alle aus Wien und NÖ, war noch keiner in V. Lustig war jene Vortragende von der Gewerkschaft, die vor nachteiligen Klauseln in Dienstverträgen warnte. Etwa, wenn dort als Arbeitsort „Österreich“ stehe: „Da könnten sie zum Beispiel von Wien nach Vorarlberg geschickt werden“, sagte sie mit Grauen in der Stimme.
Es ist hart, wie wenig sie hier über Vorarlberg wissen – und damit ist nicht gemeint, dass man einen Landesrat nennen kann, die Flüsse im Bregenzerwald, den höchsten Berg oder mittelalterliche Herrscherfamilien. Aber dass V etwa stark ist bei Industrie, Hi-Tech und Handwerk? Dass man dort Red Bull macht? Dass es grenzenlose Schifffahrt auf dem Bodensee gibt? Orte wie Rankweil, Hard, Hörbranz? Negativ. Beispiele hab ich viele, aber man muss beim Nennen vorsichtig sein. Da war etwa der Wiener Alleswisserjournalist, der nicht wusste, dass Vorarlberg am Rhein liegt; oder die Reporterin, die beim ersten Besuch staunte, dass es dort nicht nur Dörfer gibt, dafür viele Fabriken, Urbanität und so viele Lüt mit Migrationshintergrund.
Teils grenzt das an absichtliche Ignoranz. So gab’s vor langer Zeit dümmliche Reaktionen aus dem engeren Wiener Journalistenhöllenkreis auf gelegentliche Spaßkolumnen meinerseits mit leichtem Ländle-Bezug. Wie meinte ein soignierter älterer Kollege? „Ah, des is so weit weg, des interessiert dô kaan.“ Als ich erwiderte, Wien interessiere in V auch keinen, war er eingeschnappt und zog ein Schnoferl. In Österreich ist die Kluft zwischen Austeilen und Einsteckenkönnen nirgends größer als in Wien (außer eventuell in Tirol).
Schräg war der blasierte ORF-Typ, der auf Ö1 vor der Ländle-Landtagswahl 2024 vom „Wahlkampf auf der Österreich-abgewandten Seite des Arlbergs“ witzelte. Wow: Da ist nicht Österreich? Ist Vorarlberg nicht laut Artikel 2 Bundesverfassung Teil Österreichs? Andreas Khol würde sagen, dass Ö1 damit „außerhalb des Verfassungsbogens“ steht. Es gibt eine Österreich-abgewandte Seite der Karawanken, aber dort ist Slowenien, an der Österreich-abgewandten Seite der March ist die Slowakei. Vielleicht wurmt’s die Wiener, dass sie ab 1278 von den Habsburgern mit ihrem Gefolge aus Schwaben, dem Elsass und der späteren Schweiz, also von Westlern, mithin Alemannen, kolonisiert wurden, harhar!
Klar: Auch viele Vorarlberger schert der Osten wenig, oft endet ihr Horizont in Innsbruck oder im Klostertal, es gibt bekannte Ressentiments. Allerdings waren gewiss schon viel mehr Gsiberger in Wien als umgekehrt. Das fängt mit Schülern an, die man in der Wienwoche dorthin karrt, während sich die Wiener in der Landschulwoche auf mehrere Länder verteilen. Dazu kommen all die Studenten, die es von V nach Wien zog; dort waren im Semester 2023/24 laut Statistik Austria fast 1800 von total rund 4400 (Innsbruck: etwa 2100). Von 56.500 Wienern studierten nur etwa 2800 anderswo im Inland (Innsbruck: ca. 190).
In Wien leben etwa 20.000 Vorarlberger, heißt es. Andere Zahlen schwanken zwischen 10.000 und 30.000. Umgekehrt weiß man’s nicht, aber wie viele Wiener in V kennen Sie? Ich nur zwei: Einer war Croupier im Casino, die andere Person, eine Dame, lebt dort seit den 1950ern und ist jetzt über 100.
Vielsagend sind Daten aus dem Tourismus: Dort zählte man im Ländle im Zeitraum Mai 2024-April 25 gut 95.000 Ankünfte aus Wien (die größte Inlandsgruppe nach Vorarlbergern), in Wien etwa 110.000 aus V. Klar sind darunter auch Mehrfachzählungen, aber legt man das auf die Einwohnerzahl um, staunst du: Statistisch fuhren demnach bis zu 4,75 Prozent der Wiener nach V, umgekehrt 27 Prozent (!) der Vorarlberger nach Wien.
Seit der Pandemie ist Vorarlberg für Restösterreicher interessanter: 2024 maß man hier gegenüber 2019 ein Gäste-Plus von über zehn Prozent. Einige meiner Bekannten waren erstmals in V, etwa ein Paar aus dem Burgenland/Wien in Schönenbach. Es sei genial gewesen. Eine Kollegin aus NÖ sagte: „Die Leut sind alle so nett.“ Schön zu hören! (Sie hat wohl auch Glück gehabt.) Umgekehrt kam einst ein Bekannter mit seiner überheblichen Wiener Art in V nicht so gut an, wie man hört. Tja: Manch Vorurteil hat eben doch seinen guten Grund.
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