
Handeln wir richtig, geht es unseren Kindern gut? Ein Impuls für mehr Kinderschutz in Vorarlberg
Es liegt an uns allen, was aus Kindern wird – diese zentrale Idee des Vorarlberger Kinderdorfs gewinnt angesichts der aktuellen Missbrauchsvorfälle im SOS-Kinderdorf an Tragweite.
Zum 70-jährigen Jubiläum konnte ich 2021 mit Werner Gasser nach Schönenbach fahren, wo die Wurzeln des von Hugo Kleinbrod gegründeten Vorarlberger Kinderdorfs liegen. Viele Jahrzehnte lang hat er sich als ehrenamtliches Vorstandsmitglied für den Schutz von Kindern in Vorarlberg eingesetzt. Es waren Menschen wie Werner Gasser, die das Vorarlberger Kinderdorf zu einem Ort machten, an dem Kinder neuen Lebensmut finden. Er war einer von wenigen, die schon damals die entscheidende Kinderschutz-Frage stellten: Handeln wir richtig? Geht es unseren Kindern gut? Dennoch dauerte es mit kritischem Blick auf die eigene Geschichte noch lange, bis der Kinderschutz auf Basis pädagogischer und psychologischer Erkenntnisse in den Fokus rückte. Dass sich das Vorarlberger Kinderdorf ab Mitte der 80er Jahre zu einem professionellen und umfassenden Netzwerk der Solidarität für benachteiligte Kinder in Vorarlberg entwickelt hat, ist Personen wie Werner Gasser, Christoph Hackspiel, Anneli Kremmel-Bohle und vielen haupt- und ehrenamtlich engagierten Personen zu verdanken, die sich gemeinsam für die fachliche Entwicklung des Vorarlberger Kinderdorfes eingesetzt haben.
In den letzten Jahrzehnten haben wir unsere eigene Vergangenheit – auch und vor allem die dunklen Anteile – systematisch aufgearbeitet: Wir haben alle uns bekannten Fälle von Missbrauch behandelt und der Opferschutzkommission gemeldet. Zudem macht unser Buch „Kindheit(en) in Vorarlberg“ die Geschichte des Vorarlberger Kinderdorfs öffentlich und lässt Zeitzeug:innen selbst zu Wort kommen. Die Entwicklung eines umfassenden Kinderschutzkonzeptes und die Schaffung einer eigenen Kinderschutzstelle waren weitere notwendige Maßnahmen, die dazu beitragen, den Kinderschutz im Vorarlberger Kinderdorf zu gewährleisten. Heute blicken über 300 Mitarbeitende mit großer Verantwortung tagtäglich mit einer „Kinderschutzbrille“ auf die uns anvertrauten jungen Menschen. Ihre engagierte Arbeit wird derzeit von den Missbrauchsvorfällen im SOS-Kinderdorf überschattet – denn obwohl wir kein SOS-Kinderdorf sind, werden wir immer wieder mit diesem verwechselt.
Angesichts dieser erschütternden Missstände wird eine zentrale Idee des Vorarlberger Kinderdorfs in ihrer ganzen Bedeutung bewusst: Es liegt an uns allen, was aus Kindern wird. Konzepte allein reichen nicht, um Kinderschutz sicherzustellen. Es braucht gelebte Haltung, Achtsamkeit und den wohlwollenden Blick auf Kinder von uns allen. Es braucht aber auch kritische Stimmen und immer wieder die Bereitschaft und den Mut, genau hinzuschauen und zu handeln. Ich wünsche mir, dass alle Erwachsenen die Kinderschutzbrille aufsetzen und sich fragen: Handeln wir richtig, geht es unseren Kindern gut? Dabei geht es nicht nur darum, Kinder vor Gewalt und Übergriffen zu schützen, sondern auch darum, ihnen Möglichkeiten und Perspektiven zu geben. Im wohlhabenden Vorarlberg sind über 20 Prozent der Kinder von Armut und Ausgrenzung betroffen und werden tatsächlich zurückgelassen. Ihre Chancen auf Bildung, Gesundheit und Entfaltung ihrer Potenziale sind massiv eingeschränkt – mit weitreichenden Auswirkungen auf ihr ganzes Leben. Hier herrscht nach wie vor der altbekannte Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Kinder aus wohlhabenden Familien verfügen über das volle Chancenspektrum, während Kinder aus sozial benachteiligten Familien immer mehr den Anschluss verlieren. Die jetzt angedrohten Kürzungen im Sozialbereich werden in der Kinder- und Jugendhilfe zu einer massiven Verschärfung dieses Effektes führen. Kinder, die mittels qualitativ hochwertiger sozialpädagogischer Angebote den Anschluss gefunden haben, werden in Zukunft von chancenreichen Lebensbedingungen ausgeschlossen bleiben. Der Kinderschutz und die Chancengerechtigkeit bleiben als Leitideen auf der Strecke und fallen dem Sparstift zum Opfer.
Wie kann also Vorarlberg wirklich zum chancenreichsten Lebensraum für Kinder werden? Was können wir gemeinsam dafür tun, dass alle Kinder Vorarlbergs umsorgt und gut aufwachsen können? Indem bei jeder politischen Entscheidung das Kindeswohl in den Fokus gestellt und sie auch dahingehend überprüft wird, ob sie sich nachhaltig positiv für die junge und nachfolgende Generation auswirkt. Handlungsleitend muss das Ziel der Chancengerechtigkeit unabhängig von sozialer und familiärer Herkunft sein. Aber auch indem jede:r einzelne von uns zur:m Perspektivengeber:in für Kinder wird – in der eigenen Familie, der Nachbarschaft, in der Schule, im Sportverein oder an einem anderen Ort – und Kinder ernst nimmt, sie in ihren Träumen bestärkt und dazu ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen. Genau solche Mutmacher:innen holen wir in unserer Initiative „Wir KINDER VORarlbergs!“ vor den Vorhang und erzählen inzwischen über 160 Geschichten über das Großwerden in Vorarlberg (www.wir-kinder-vorarlbergs.at).
Kinderschutz-Spaziergang
Nehmen Sie eine neue Perspektive ein und setzen Sie mit uns gemeinsam die Kinderschutzbrille auf: Wir laden Sie am 21. November 2025 um 14 Uhr zu einem Kinderschutz-Spaziergang und einen Blick hinter die Kulissen ins Kinderdorf Kronhalde in Bregenz ein.





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