Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Vom System Wald lernen

Dezember 2025

Warum in Unternehmen und in Wäldern oftmals dieselben Gesetzmäßigkeiten wirken.

In einem nachhaltig bewirtschafteten Wald stehen verschiedenste Bäume, Sträucher, Pilze und Kräuter miteinander in Wechselwirkung; sie tragen in ihrer Unterschiedlichkeit und gemeinsam mit einer Vielzahl von Tieren zu einem intakten Ökosystem bei. Ein solcher Wald liefert nachwachsenden Rohstoff, bindet CO2, produziert Sauerstoff, filtert Trinkwasser, er ist Schutzwald, Lebensraum für Fauna und Flora und Erholungsgebiet für den Menschen.
An einem solchen Wald sieht man, dass das Ganze oft wirklich mehr ist als nur die Summe seiner Teile. Karin Müller-Vögel ist Waldpädagogin. Und wenn sie Besucher durch ihren Wald auf der Fluh bei Bregenz führt, dann öffnet sie deren Augen in vielerlei Hinsicht. Sie sagt beispielsweise: „Unternehmen und Organisationen können von diesem Ökosystem lernen. Denn viele der Gesetzmäßigkeiten, die in einem Wald wirksam sind, wirken auch in diesen von Menschen gemachten Systemen.“ 
Der Satz irritiert. Vorerst. Doch dass eine organisierte Einheit Eigenschaften besitzt, die über die Summe ihrer Teile hinausgehen, wird beispielsweise in der Physik, der Chemie, der Soziologie oder der Systemtheorie immer wieder wissenschaftlich bestätigt. Die Leistung eines guten Teams lässt sich beispielsweise nicht berechnen, indem man nur die Leistungen der einzelnen Mitglieder addiert. Ihre Zusammenarbeit, ihre Kommunikation untereinander, die Vereinigung unterschiedlicher individueller Stärken führen zu einer weit höheren Potenzialentfaltung. Sie führen zu neuen Qualitäten. Wenn denn auch jeder Einzelne seinen Platz und seine Aufgabe hat, die seinen Fähigkeiten entspricht. Das ist in einem erfolgreichen Unternehmen der Fall. Und das ist im Ökosystem Wald der Fall. 

Kooperationen und Vielfalt
Beide sind im Idealfall im Inneren von guten Kooperationen geprägt. In einem Wald bilden etwa Pilzgeflecht und Pflanzenwurzeln eine symbiotische Lebensgemeinschaft, genannt Mykorrhiza. Das unterirdische Pilzgeflecht vergrößert die Oberfläche der Wurzeln, der Baum kann damit mehr Wasser und Nährstoffe aufnehmen. Der Baum liefert dem Pilz im Gegenzug wiederum Zucker und andere energiereiche Verbindungen, die er durch Photosynthese erzeugt. Durch die Kooperation verbessert sich das Wachstum, erhöht sich die Stressresistenz gegenüber Trockenheit, Krankheiten und Schadstoffen und nimmt die Bodenfruchtbarkeit und die Humusbildung zu. In Summe ist diese Kooperation also: Essenziell wichtig für das Ökosystem. Kooperationen, bei denen keine Seite übervorteilt wird, sondern alle im selben Ausmaß profitieren, haben ergo einen hohen Wert. 
Innere Vielfalt kann dabei nicht nur den Output des gesamten Systems verbessern. Sie kann auch dessen Resistenz äußeren Einflüssen gegenüber deutlich erhöhen. Ein Beispiel? Ein reiner Fichtenwald ist weitaus anfälliger als ein Mischwald. Denn die Fichte, mit der in den 1950er- und 1960er-Jahren Österreichs Wälder flächendeckend aufgeforstet wurden, ist zwar einfach zu händeln und wirtschaftlich gut nutzbar. Allerdings stammt sie ursprünglich vorwiegend aus höheren Gebirgsregionen. Sie ist ein Flachwurzler, kommt also mit ihren Wurzeln nicht in tiefere, feuchtere Bodenschichten. Was in früheren Jahren kein Problem war, wird nun zu einem, erklärt die Bregenzerin: „Der Klimawandel bereitet den Fichten Stress. Sie werden schwach. Und dann kommt der Borkenkäfer.“ Stirbt in einem Mischwald dagegen eine Baumart ab, kompensieren andere den Verlust. Was aus unternehmerischer Sicht daraus abzuleiten ist? „Dass Monokulturen und einseitige Spezialisierungen Systeme anfällig machen.“ Man könnte auch sagen: Je tiefer ein Akteur in einem System verwurzelt ist, sei es nun in einem Wald oder in einem Unternehmen, umso besser wird er mit Schwierigkeiten umgehen können.

Vertrieb und Wachstum
Bei der Plenterwaldbewirtschaftung werden nur einzelne Bäume entnommen. Diese naturnahe Waldnutzung funktioniert auch deswegen, weil nur behutsam eingegriffen und nichts bis ins Letzte hinein kontrolliert wird. Nur ab und an ist ein Einschreiten ratsam, etwa um die Brombeere zu stutzen, die junge Bäume überwuchert und ihnen das Licht nimmt. Wenn – in einer weiteren Analogie – also ältere Mitarbeiter neue Kollegen in den Schatten stellen und sie damit darin hindern, sich entsprechend zu entwickeln. Apropos: Karin Müller-Vögel nennt das Eichhörnchen den „besten Vertriebsmitarbeiter“ des Waldes. Es heißt, dass ein einzelnes Eichhörnchen im Herbst bis zu 10.000 Nüsse, Eicheln und Bucheckern in Baumwurzeln oder im Waldboden versteckt, um für den Winter vorzusorgen. Da das Eichhörnchen aber bei weitem nicht alle Vorräte wiederfindet, trotz seines ausgezeichneten Geruchssinns, trägt es seinen Teil zum Wachstum im Wald bei. Wie ein guter Vertriebsmitarbeiter eben zum Wachstum in einem Unternehmen beiträgt.
Karin Müller-Vögels Vergleiche basieren auf ihrer Weiterentwicklung eines Systemmodells, das von einem Architekten und Unternehmensberater namens Poostchi Kambiz entwickelt wurde. Dessen Open System Model besagt: Wenn sich differenzierte Elemente in einem Prozess der Arbeitsteiligkeit zusammenschließen, steigt die Weisheit dieser Einheit exponenziell. Und erweitern sich deren Potenziale, Wirkkräfte und Möglichkeiten. Doch dafür braucht es Kambiz zufolge Voraussetzungen: Es braucht eine Führung, die ihre Führungsrolle aktiv ausübt und eine klare Ordnung in der Organisation, in der jeder Einzelne seine Funktion hat. Es braucht ein wachsames Auge auf Veränderungen im Außen. Und es braucht auch Verständnis für Widerstand. 
Die Waldpädagogin verweist auch da auf den Borkenkäfer: „Ein massives Auftreten kann ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass im Ökosystem Wald etwas grundsätzlich nicht stimmt.“ Ebenso kann der Widerstand eines Mitarbeiters darauf hinweisen, dass in einem Unternehmen tatsächlich etwas derart in Unordnung geraten ist, dass man einschreiten muss.“ Wer einen Plenterwald hegt, darf nur behutsam führen, um den individuen Raum zur Kooperation und zur Entwicklung zu lassen. Aber er muss wachsam und achtsam sein und gegebenenfalls rasch reagieren. Wenn er denn das Ganze im Blick hat – und vor lauter Bäumen auch den Wald sieht.

voegelimwald.at

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