
„Stolpersteine des Denkens“
Unternehmensberater und Buchautor Vaheh Khachatouri (61) sagt im Interview: Wer versteht, wie das Denken funktioniert, kann Menschen wirksam inspirieren. Ein Gespräch über schnelles und langsames Denken, über Bestätigungsfehler, die zum eigenen Weltbild passen – und die Gefahren der Manipulation.
Herr Khachatouri, Sie sagen von sich selbst: ‚Ich glaube an die Kraft guter Gespräche.‘
Daran glaube ich tatsächlich. In guten Gesprächen kann man weit mehr erreichen, als nur Informationen auszutauschen. Man kann Klarheit schaffen, Vertrauen aufbauen und vor allem: Dinge in Bewegung setzen, im Denken und Handeln. Man kann sein Gegenüber dazu inspirieren, über sich hinauszuwachsen, neue Perspektiven einzunehmen und bessere Entscheidungen zu treffen.
Warum sprechen Sie von Inspiration? Und nicht von Motivation?
Weil Motivation oft nur kurzfristig wirkt. Und von außen kommt. Ein inspirierter Mensch kommt dagegen von sich aus in Bewegung. Weil in ihm eine innere Kraft entsteht.
Ein Zitat aus Ihrem Buch lautet: ‚Es reicht nicht aus, Menschen lediglich mit einem Ziel zu konfrontieren.‘ Warum reicht das nicht aus?
Weil man ein Ziel als erstrebenswert empfinden muss. Sieht der Mensch in einem Ziel keinen Wert, weder für sich selbst noch für die Gesellschaft, dann wird er sich nicht bewegen. Warum sollte er auch? Man engagiert sich ja nicht automatisch, nur weil man etwas vorgesetzt bekommt. Ich spreche da von diesen Ansätzen in der Führung, ein Ziel zu vereinbaren und dann zu kontrollieren. Das funktioniert bestenfalls in Ausnahmefällen …
Weil das Ziel nicht zum eigenen gemacht wird?
Genau. Weil damit nicht diese innere Kraft freigesetzt wird, das Ziel auch dann erreichen zu wollen, wenn die Mühen der Ebene beginnen und die erste Begeisterung vorbei ist. Führungspersonen verzweifeln da oft, sie geben ihren Mitarbeitern die Schuld, sie sagen, dass die heutige junge Generation nicht mehr motiviert sei. Aber wer ist motiviert, wenn er nicht von dem überzeugt ist, was er macht? Wird Veränderung verordnet, sieht der Mensch sie als Bedrohung an. Ohne Grund streben wir keine Veränderung an.
Sie schreiben: Um Entscheidungen eines Menschen überhaupt beeinflussen zu können, müsse man zunächst verstehen, wie sie in unserem Denken entstehen.
Wie kann ich ein System gezielt beeinflussen, wenn ich nicht verstehe, wie es funktioniert? In unserem Fall braucht es ein tiefes Verständnis dafür, wie Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten. Man kann sich Erkenntnisse der Wissenschaft zunutze machen, beispielsweise die Arbeiten von Daniel Kahneman und Amos Tversky. Sie beschreiben die beiden Denksysteme in uns Menschen, das schnelle Denken und das langsame.
Die sich wie unterscheiden?
Das schnelle Denken ist das intuitive System. Es ist evolutionär gesehen das weitaus ältere. Die Fähigkeit, rasch zu handeln, hat unseren Vorfahren über hunderttausende von Jahren das Überleben gesichert. Wer sich angesichts einer Gefahr noch überlegen musste, ob er kämpfen oder flüchten oder auf einen Baum klettern sollte, war bereits tot. Unser Gehirn ist also evolutionär darauf spezialisiert, schnell zu denken und auf neue, ungewöhnliche Signale in der Umgebung instinktiv zu reagieren. Es verlässt sich auf Muster und Vereinfachungen. Doch die Welt ist eine andere geworden.
Und das heißt?
Dass unser heutiges Leben viel mehr langsames, analytisches Denken erfordert. Doch da wir für diese Art des gründlichen Denkens Zeit und Aufmerksamkeit aufbringen müssen, ist es für unser Gehirn viel energieintensiver. Und deswegen verwenden wir es nur sehr ungern. Wir entscheiden lieber intuitiv. Das verursacht die Stolpersteine des Denkens. Versteht man diesen Mechanismus, kann man Menschen in ihren Entscheidungsfindungen viel besser unterstützen.
Ein Beispiel wäre gut.
Ich nenne ein Beispiel aus meiner Zusammenarbeit mit einem Unternehmer. Der hatte völlig überraschend ein Übernahmeangebot für seine Firmengruppe erhalten. In einer ersten Reaktion wollte er ablehnen, dann aber freundete er sich damit an. Doch als das Angebot nach einer Unternehmensprüfung leicht reduziert wurde, fühlte er sich intuitiv zurückgewiesen und wollte absagen. Sein Unbehagen resultierte aus der Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Angebot.
Weil der Mensch, wie Sie schreiben, Verluste emotional intensiver empfindet als Gewinne?
Ja. Wenn ich jemandem beispielsweise für eine Dienstleistung oder ein Produkt zuerst 100 Euro zahlen will, dann aber drei Euro weniger, konzentriert sich der Verkäufer auf diese Differenz, und nicht mehr auf die 97 Euro, die er bekommen würde. Das ist Verlustaversion. Im konkreten Fall war das zweite Angebot nur ein bisschen niedriger. Aber es war in der Wahrnehmung des Unternehmers eben ein Verlust, gemessen am Referenzpunkt des ersten Angebots.
Und Sie halfen dem Unternehmer, diesen gedanklichen Stolperstein zu umgehen?
In diesem Fall war es die Leistung unseres Teams. In diesen Teams sitzen bis zu acht Unternehmerinnen und Unternehmer regelmäßig zusammen, um unvoreingenommen ein bestimmtes Thema, das ein Teammitglied beschäftigt, zu diskutieren. Dadurch ergeben sich oft neue Perspektiven und kreative Lösungen. In diesem Fall betonte das Team nicht den fiktiven Verlust, sondern den finanziellen Gewinn und den Gewinn an Lebensqualität, der durch den Verkauf der Firmengruppe entstehen würde. Dem Unternehmer wurde bewusst, wie er die Sache objektiv betrachten konnte, ohne emotionale Färbung seiner Wahrnehmung. So konnte er letztlich eine rationale Entscheidung treffen. Und nahm das Angebot an. Hinterher empfand er diesen Schritt als richtig und befreiend.
Es war also …
Es war die richtige Vorgehensweise, die kognitive Verzerrung zu neutralisieren, den gedanklichen Stolperstein zu umgehen. Denn der Mensch nimmt abhängig von seinem emotionalen Zustand bestimmte Aspekte der Realität stärker wahr als andere.
Sie schreiben auch, dass wir „Informationen bevorzugt so verarbeiten, dass sie zu unserem Weltbild passen“.
Das ist ein weiterer dieser Stolpersteine: Der Bestätigungsfehler. Unser Denken funktioniert, indem wir ein Modell der Welt um uns herum bilden. Das brauchen wir, um unseren Weg überhaupt finden zu können. Werden wir nun aber mit einer Information konfrontiert, die im Widerspruch zu diesem Modell steht, haben wir zwei Optionen: Entweder passen wir unser Modell der Welt an. Oder wir marginalisieren die neue Information. Und da es viel einfacher ist, eine Information als falsch abzustempeln als unser Weltbild anzupassen, nehmen wir viel lieber das wahr, was zu unserer bisherigen Sichtweise passt.
Was Sie da sagen, hat eine Dimension, die weit über das Wirtschaftliche hinausreicht, da sind wir mitten in gesellschaftlich sehr aktuellen Fragen.
Richtig. Das sind aktuelle Fragen. Dieses Wissen wird auch sehr bewusst verwendet, um Menschen zu manipulieren. Denn die Werkzeuge sind dieselben. Man kann mit diesen Methoden inspirieren oder manipulieren, wie man mit einem Hammer ja auch etwas schaffen oder etwas zerstören kann. Entscheidend ist, die Grenze zwischen dem einen und dem anderen zu erkennen: Wo endet Inspiration? Wo beginnt Manipulation?
Und wo verläuft diese Grenze?
Inspiration fördert Transparenz und Eigenständigkeit. Wer sich also von dieser Grenze fernhalten und inspirieren, aber nicht manipulieren will, der muss stets darauf achten, das selbständige Denken des Gegenübers zu fördern und seine Wahrnehmung nicht einzuschränken. Das muss ich in meiner Arbeit stets beachten. Damit nicht ich die Entscheidungen für meinen Mandanten treffe, sondern ihn nur unterstütze, die beste Entscheidung in seinem Sinn selbst zu treffen.
In Ihrem Buch heißt es auch, dass der Mensch von Natur aus eine Aversion gegen Mehrdeutigkeit hat. Macht uns das anfällig für politische Manipulation?
Ja. Aber das gilt nicht nur in der Politik. Unser Denken mag keine Dissonanz. Komplexität verwirrt uns. Die Gefahr ist groß, dass wir statt der komplizierten Erklärung die einfache bevorzugen. Da hören wir lieber demjenigen mit den einfachen Antworten zu, und nicht demjenigen, der darauf hinweist, dass es in gewissen Themen gar keine simplen Antworten geben kann. Die Frage lautet also: Wie kann ich den Menschen anregen, in seinem Denken nicht instinktiv dem einfachen, sondern dem logischen, analytischen Weg zu folgen?
Und wie lautet die Antwort?
Dass der Mensch nur dann logisch denkt, wenn er diese Stolpersteine im Denken umgeht. Das lehrt uns das Elaboration Likelihood Model. Da hilft das Wissen um psychologische Effekte. Habe ich diese Mechanismen verstanden, kann ich jemanden in seiner Entscheidungsfindung entsprechend weiterbringen. Etwa, wenn ich einem Mandanten helfe, einen Plan zu entwickeln und den ersten Schritt zu gehen. Die Zuversicht und das Erfolgserlebnis, die damit verbunden sind, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass er dann auch den Rest des Weges geht.
Sie sagen: Türen lassen sich mit psychologischen Taktiken öffnen.
Wenn es mir gelingt, Sympathie zwischen Ihnen und mir herzustellen, dann werden Sie mir Aufmerksamkeit schenken. Wenn es mir gelingt, Ihr Vertrauen zu gewinnen, werden Sie mir zuhören. Das gleiche gilt für Autorität. Man hört dem, dem man eine gewisse Kompetenz zuschreibt, ganz anders zu, man zieht dessen Empfehlungen in weit höherem Maß in Erwägung. Auch kann es wichtig sein, im Gegenüber Neugier zu entfachen. Wer neugierig ist, will mehr wissen. Es gibt ungefähr 20 dieser Techniken, die sich bewährt haben, um dem Gegenüber in seinen Gedanken zu helfen. Und wenn ich diese Effekte systematisch miteinander kombiniere, so wie ich es in meinem Buch beschreibe, kann ich meinen Erfolg im Inspirieren maximieren. Dann kann ich wirksam inspirieren.
Ist Fragen zu stellen auch eine solche wirksame Methode?
Nehmen wir unser Interview: Sie stellen die Fragen, ich antworte, und allein dadurch, dass ich mich auf die Beantwortung konzentriere, habe ich nebenbei keine anderen Gedanken. Indem Sie also gezielt Ihre Fragen stellen, geben Sie vor, in welche Richtung meine Gedanken fließen. Mit Fragen können wir das Denken des Gegenübers lenken.
Vielen Dank für das Gespräch!
Vaheh Khachatouri
* 1964 in Teheran, promovierte an der TU Wien in Robotik und wissensbasierten mathematischen Systemen. Khachatouri war über 20 Jahre lang in verschiedenen Führungsfunktionen tätig, unter anderem für die Hilti Group und die Bachmann Gruppe. Er war auch Geschäftsführer der FH Vorarlberg und der V-Research GmbH, bevor er sich 2017 als Unternehmensberater selbstständig machte und heute global tätig ist. Khachatouri lebt und arbeitet in Feldkirch.






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