Herbert Motter

Die Renaissance des Physischen

Dezember 2025

Von Algorithmen gelenkte Kaufentscheidungen, digitaler Dauerpräsenz, KI-gestützter Convenience: Der Handel steht unter Druck wie kaum eine andere Branche. Und doch erlebt der stationäre Handel eine bemerkenswerte Wiederentdeckung. Der physische Raum im Handel ist kein Auslaufmodell, sondern hat seine Stärke in der Zukunft. So auch die Meinung des internationalen Marketingexperten Marc Schumacher und von Rainer Trefelik, Obmann der Bundessparte Handel in der WKÖ.

Trendforscher Marc Schumacher beschreibt eine Entwicklung, die wir alle spüren: Die Technologie hat unser Leben in den vergangenen zwei Jahrzehnten radikal verändert, doch unser Wesen als Menschen ist gleichgeblieben. „Wir sind auf einem 30.000 Jahre alten biologischen Quellcode unterwegs“, sagt er. „Wir brauchen Begegnung, Sinnlichkeit und gemeinsamen Live-Kontakt, um zu überleben.“ Seine Diagnose ist deutlich: „Wir sind überdigitalisiert.“ Die Flut an Reizen, Kanälen und Tools hat ein Niveau erreicht, das Menschen überfordert – und eine Gegenbewegung ausgelöst hat. Der Wunsch nach digitalen Pausen wächst, und damit steigt die Wertschätzung für Orte, an denen man wieder spürt, erlebt und in Gemeinschaft eintaucht.
„Für den Handel bedeutet das eine historische Gelegenheit. Denn genau diese Qualitäten kann nur der physische Raum bieten: Multisensualität, Einzigartigkeit, limitierte Verfügbarkeit, echte Begegnung. Online kann schneller und bequemer sein – aber Erlebnis, Atmosphäre und Authentizität entstehen offline.
Schumacher fordert deshalb ein neues Verständnis des stationären Handels. Der klassische Fachhandel, der primär über Sortiment definiert ist, sei ein Konzept von gestern. Die Zukunft des Stores liege in Identität, Gemeinschaft und Inszenierung. Menschen wollen Produkte anfassen, riechen, probieren, sich inspirieren lassen und Dinge entdecken, nach denen sie online nie gesucht hätten. Die Anspruchshaltung der Konsumenten sei explodiert. Streaming-Plattformen und digitale Services haben den Benchmark für Geschwindigkeit, Komfort und Ästhetik massiv verschoben. Wenn der Handel nicht massiv an der „Erlebnis-Ökonomie“ arbeite, „frisst der Zeitgeist den Handel“.
Doch Schumacher warnt zugleich vor einer übermäßigen Technisierung des physischen Raums. KI werde Prozesse im Hintergrund rationalisieren – aber gerade deshalb brauchen Menschen Räume, die frei von Technologie sind. Exklusive, analoge Inseln im digitalen Alltag. „Es braucht Räume und Anlässe, die dadurch besonders und exklusiv sind, dass sie frei von Technologie sind.“ Genau darin liege die große Chance des stationären Handels.

Der stationäre Handel als gesellschaftliche Infrastruktur 
Während Schumacher den kulturellen Wandel beschreibt, blickt Rainer Trefelik auf die realen Rahmenbedingungen der Branche. Für ihn ist klar: Der Handel ist nicht nur Wirtschaftssektor, sondern essenzielle soziale Infrastruktur. Er schafft Arbeitsplätze, hält Regionen belebt, sichert die Versorgung und wird für viele Menschen – besonders jüngere, digital arbeitende – zum einzigen täglichen Ort echter persönlicher Begegnung.
Gleichzeitig kämpfe die Branche mit massiven Herausforderungen: Energiepreise, Löhne, Mieten und staatliche Gebühren seien stark gestiegen, Überregulierung, ungleiche Wettbewerbsbedingungen und extrem aggressive globale Onlineplattformen tun ihres dazu. Der höchste Handelsvertreter nennt ein konkretes Beispiel: Während europäische Händler strenge Vorgaben zu Retouren-Recycling erfüllen müssen, werden riesige Mengen asiatischer Rücksendungen einfach per Schiff zurückgeschickt, außerhalb jeder Regulierung. Das führe zu einem klar verzerrten Wettbewerb. Hinzu komme das Auseinanderdriften zwischen Wunsch und Verhalten der Konsumenten. In Befragungen stehen Nachhaltigkeit und Regionalität hoch im Kurs, doch gratis Rücksendungen, Fast Fashion und Impulskäufe auf Niedrigpreisplattformen erzählen eine andere Geschichte. „Wir müssen junge Menschen sensibilisieren“, sagt der Obmann der Bundessparte Handel. Es brauche endlich das Bewusstsein, welche Kosten und Umweltfolgen dieses Verhalten verursacht und welchen Wert stationäre Händler bieten. Insgesamt sieht Trefelik die Kauflaune der Konsumenten noch deutlich unter ihrem Potenzial, obwohl die Menschen durch Gehaltsabschlüsse eigentlich mehr Geld zur Verfügung hätten. Der Grund dafür liegt für ihn weniger in der Realität als vielmehr in der öffentlichen Wahrnehmung: Die anhaltenden politischen Debatten über Lebensmittelpreise, Preiskontrollen und angeblich unfaire Praktiken setzen sich in den Köpfen der Menschen fest und hemmen den Konsum.
Eine weitere politische Baustelle sieht er in der Erreichbarkeit der Städte. Fußgängerzonen mit hoher Aufenthaltsqualität seien wichtig, aber sie funktionieren nur, wenn Menschen dort auch hinkommen. Fehlende Parkplätze seien eine der größten Hürden für den Innenstadtbesuch, während Einkaufszentren mit guter Zufahrt und großzügiger Infrastruktur punkten. „Wer Geschäfte erhalten will, muss sie auch erreichbar halten, denn Amazon- und Temu-Pakete kommen ohnehin, egal wie restriktiv die Innenstadt gestaltet ist.“
Sowohl Marc Schumacher als auch Rainer Trefelik sehen im kuratierten, hochwertigen Einkaufserlebnis die Zukunft des Handels. Trefelik verweist auf neue Konzepte wie das in Lochau entstandene „Aquarium“, einen Marktplatz, der regionale Anbieter vereint, die gleiche Regionalitäts-, Qualitäts- und Nachhaltigkeitsstandards teilen. Das sei keine Erfindung der Moderne, sondern die Rückkehr zum ältesten Handelsprinzip: Orientierung durch Auswahl und Inspiration durch Entdeckung. In einer Welt, in der Standardkäufe online erledigt werden, wächst die Sehnsucht nach Orten, die Einkaufen in ein Erlebnis verwandeln. „Händler werden so wieder zu Vertrauensinstanzen, die Qualität vorfiltern, Orientierung bieten und damit ein Bedürfnis erfüllen, das der Onlinehandel nicht ersetzen kann“, betont Trefelik.

Stärken ausspielen
Der physische Handel hat eine enorme Zukunft, wenn er seine Stärken konsequent ausspielt und wenn Politik, Konsumenten und Unternehmer ihm faire Chancen geben, sind sich beide Experten einig. Ihre gemeinsame Botschaft lautet: Der Handel wird sich verändern, aber er wird gebraucht. Mehr denn je. Während die digitale Welt weiterwächst, wächst gleichzeitig das Bedürfnis nach Orten, an denen Menschen eintreten und spüren: Hier bin ich. Hier erlebe ich etwas. Hier begegne ich anderen. 
Die Renaissance des Physischen ist keine Nostalgiebewegung, sie ist eine Zukunftsstrategie. Und sie ist die große Chance des stationären Handels.

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