Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Steiles Erbe – das Große Walsertal im Blick

November 2025

Nikolaus Walter online auf volare: der Fotograf aus Feldkirch macht in seinen Fotos Alltägliches, Unscheinbares und schleichende Veränderungen sichtbar, so geschehen besonders im Großen Walsertal, wo er das „Steile Erbe“ eines Tales zeigt.

Die Landesbibliothek ist seit 2012 stolze Besitzerin des fotografischen Lebenswerks von Nikolaus Walter. Darin enthalten sind mittlerweile fast 60 Jahre fotografischen Schaffens, und der Fotograf – gerade 80 Jahre alt geworden – ist weiterhin sehr produktiv.
Es sind mittlerweile tausende Fotos, die im Kühldepot der Landesbibliothek verwahrt werden, fein säuberlich nach Themen geordnet. Mit der kürzlich erfolgten Veröffentlichung einer ersten Kostprobe auf volare (www.vorarlberg.at/volare) ist nun ein erster Schritt getan, die Fotografien weit über Bücher oder Ausstellungen hinaus einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das fotografische Werk Nikolaus Walters in einer Online-Bilddatenbank vollständig abzubilden ist allerdings schier unmöglich, was mit der Charakteristik seiner Fotos zu begründen ist. Denn die große Stärke Nikolaus Walters ist es auch, dort hinzusehen, wo andere wegsehen. Themen wie Armut, Gewalt, Krankheit, Pflege, Migration werden bei ihm nicht ausgeblendet, sondern sind integraler Bestandteil seines Werkes. Es ist für die Landesbibliothek nicht vertretbar, diese Fotos im Internet zu zeigen, da mit der Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte von abgebildeten, oft noch lebenden Personen tangiert würden. In vielen Fällen werden daher wohl noch etliche Jahre vergehen müssen, bis diese Fotos das Licht der Öffentlichkeit erblicken und ihre volle Wirkung entfalten können.
Das „Steile Erbe“ ist ein zentrales Projekt im Schaffen von Nikolaus Walter, handelt es sich doch um eine fotografische Langzeitbeobachtung des Großen Walsertals, die sich über nun schon fast 50 Jahre erstreckt. Was war es denn, das den Weltenbummler an dem damals noch sehr bäuerlich geprägten Tal so sehr faszinierte?
Als Nikolaus Walter Ende der 1970er Jahre erstmals im Großen Walsertal fotografierte, waren die Wunden der Lawinenkatastrophe 1954 erst langsam verheilt. Das Tal war noch sehr bäuerlich geprägt, so arbeiteten 1981 immerhin noch 33 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, weit mehr als in allen anderen Regionen Vorarlbergs. Bis 1985 noch immer eine Sackgasse und dadurch vom Durchzugsverkehr „verschont“, blieb der Aufschwung durch den Tourismus bis dahin noch weitgehend aus.
Vielleicht war es genau dieses einzigartige Schicksal des Tales, die scheinbare Rückständigkeit, die den jungen Fotografen magisch anzog. Er fand den Weg ins Tal allerdings nicht auf direktem Weg, sondern auf Umwegen, nach längeren Aufenthalten und ausgedehnten Reisen im Ausland. Nachdem er 1967 die Ausbildung an der renommierten Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien abgeschlossen hatte, zog es ihn in die weite Welt: zunächst nach England, wo seine berufliche Aufgabe darin bestand, in grauen Städten nach attraktiven Postkartenmotiven zu suchen. Daneben gelang es ihm, zunehmend auch eigene Bilder zu produzieren, die schnell in einschlägigen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Dabei entwickelte er eine sehr individuelle Handschrift, die ihn bis heute charakterisiert: es sind nicht die Schönwettermotive, die ihn interessieren, es sind die Ränder, in England etwa die Schattenseiten des Urbanen, die „schlechten Seiten der Städte“, wie er selber sagt. Es folgten ausgedehnte Reisen nach Kanada und in die USA, manchmal in die Zentren wie Detroit oder Washington, aber auch hier oft an die Peripherie, in einem Land, das zwischen Nationalismus und Widerstand gegen den tobenden Vietnamkrieg einer Zerreißprobe ausgesetzt war. An den geografischen Rand Kanadas verschlug es Nikolaus Walter, als er einen Winter in Neufundland verbrachte und „vom Ende der Welt“ beeindruckende Fotos mitbrachte. Nach Österreich zurückgekehrt knüpfte er bald Kontakte in die heimische Fotoszene, in der er bald als anerkanntes Mitglied Platz fand. Ab den 1980er Jahren konnte Walter endlich auch von der Fotografie leben, da sich etwa die Schubertiade, das Vorarlberger Rechenzentrum oder die Bregenzer Festspiele als Auftraggeber einstellten.
Schließlich zog es ihn in den Jahren 1977 und 1978 aus genannten Gründen ins Große Walsertal, um – im Rückblick betrachtet – eine Langzeitdokumentation zu starten. Der Fotohistoriker Anton Holzer beschreibt im Katalog „Begegnungen“, der im Rahmen von Ausstellungen sowohl im vorarlberg museum als auch in der Vorarlberger Landesbibliothek erschienen ist, sehr treffend die Stärken dieses Projekts: „Und tatsächlich kommt die Langzeitdokumentation ohne spektakuläre Landschaftsaufnahmen aus, die es durchaus gegeben hätte. Er interessierte sich für das Leben und den Alltag der Bauern […] Im Laufe der vielen Jahre, die er im Walsertal unterwegs war, zeichnete er die kleinen schleichenden Veränderungen auf, die sich im Tal bemerkbar machen.“ Als Nikolaus Walter 2002 wieder intensiv im Großen Walsertal zu fotografieren begann – so schreibt Holzer – „war die bäuerliche Welt fast verschwunden. Das Tal, in das die neue Zeit zögerlicher und langsamer Einzug gehalten hatte als anderswo, hatte die Moden und Lebensstile der großen weiten Welt aufgesogen. Nikolaus Walter wollte und will in seinen Bildern keine heile Welt konservieren.“
Es sind seit der letzten umfassenden Fotodokumentation schon wieder 23 Jahre vergangen, und es wäre zu hoffen, dass sich Nikolaus Walter noch einmal ins Walsertal begibt, um die schleichenden Veränderungen festzuhalten und bewusst zu machen. Kein anderer in Vorarlberg hat einen schärferen Blick für die Schönheit des Alltäglichen.

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