Herbert Motter

Überfluss und die Erschöpfung der Gesellschaft

Juli 2025

Anlässlich der emsiana, dem Hohenemser Kulturfest, sprach der Journalist und Buchautor Robert Misik in seinem Vortrag über ein Phänomen, das unsere Gesellschaft auf paradoxe Weise prägt: den Überfluss.

Seit nunmehr 80 Jahren leben wir – zumindest in großen Teilen Europas – in einer Ordnung, die uns Wohlstand und Sicherheit bietet. Doch Autor und Journalist Robert Misik spürt eine zunehmende Bedrohlichkeit in diesem vermeintlich stabilen System. Es lohnt sich innezuhalten und darüber nachzudenken, was uns dieser Überfluss eigentlich bedeutet.
Das Wort Überfluss selbst ist bereits emotional aufgeladen. Kaum jemand begegnet ihm neutral. Für viele sind damit längst keine rein positiven Assoziationen mehr verbunden. Im Gegenteil: Oft schwingen Ambivalenz, Skepsis und auch Scham mit.

Wohlstand für wenige, Erschöpfung für viele
Wir leben in einer Welt, die mehr produziert, als sie je konsumieren könnte –und dennoch scheint uns dieser Güterreichtum nicht glücklicher zu machen. Vielmehr hetzen wir ihm hinterher und verlieren dabei das Maß. „Wir ziehen den Stuhl der Vermehrung hinter uns her“, formuliert es emsiana-Gastredner Misik pointiert. Doch er mahnt auch zur Differenzierung. Das Wir der Überflussgesellschaft ist keineswegs homogen: Es ist ein Unterschied, ob jemand im Privatjet reist oder sich überlegen muss, ob er einmal oder zweimal im Monat tanken kann. Überfluss existiert nicht für alle gleichermaßen – und gerade deshalb ist der gesellschaftliche Diskurs darüber so kompliziert.
Oft schwingt beim Thema Überfluss eine gewisse Verlogenheit mit. Man erfreut sich an seinen Besitztümern, schämt sich aber zugleich ein wenig dafür. Stattdessen verlagert sich der moralische Stolz auf vermeintlich „nachhaltige“ Konsumgüter: etwa das Bio-Federbett aus Freilandgänsen und ökologischer Baumwolle. Besonders zynisch wird es, wenn dann wiederum jene, die sich nur kleine Freuden leisten können, dafür verachtet werden, dass sie im Discounter einkaufen oder in vermeintlich „unökologischen“ Autos fahren.
Journalist Robert Misik warnt davor, dass solche Konsumkritik oft nur einen Wimpernschlag von Klassenverachtung entfernt ist.
Mit einem Zitat von George Orwell illustriert er schließlich eine tieferliegende menschliche Wahrheit: Selbst, wenn man materiell arm ist, bleibt das Bedürfnis nach Würde und Schönheit bestehen. Orwell beschreibt, wie junge Männer in englischen Bergbauregionen trotz prekärer Lebensumstände ihre wenigen Ersparnisse für schicke Kleidung ausgaben – ein Moment der Selbstachtung in einer ansonsten trostlosen Existenz. Wer über Überfluss und unsere Überflussgesellschaft spricht, sollte sich davor hüten, in gönnerhafte Herablassung oder moralische Überlegenheit zu verfallen. Denn Überfluss ist komplex; er ist zugleich ein Versprechen und eine Last, ein Symbol von Freiheit und von Zwängen. Und genau deshalb bleibt er ein so spannendes wie schwieriges Thema unserer Zeit.

Wir konsumieren, also sind wir
Konsum ist in unserer Zeit nicht mehr bloß Bedürfnisbefriedigung. Er ist Identitätsstiftung, Abgrenzung, Selbstausdruck. Wer was kauft – oder eben nicht kauft – erzählt damit eine Geschichte über sich selbst. Die hippe Kneipe, das nachhaltige Produkt, das individuell konfigurierte Auto: alles wird zu einem „Positionsgut“, wie Misik es nennt, zu einem Marker gesellschaftlicher Verortung. Im Zeitalter des Kulturkapitalismus ist jede Ware mit symbolischer Bedeutung aufgeladen. Wer einen Porsche fährt, will der Typ sein, zu dem dieser Porsche passt. Und wer bewusst konsumiert, will der Mensch sein, der achtsam, klug, ökologisch ist. Es geht längst nicht mehr nur um Haben oder Nichthaben – sondern um Sein und Wahrgenommenwerden. „Ich kaufe, also bin ich. Ich bin, was ich kaufe. Ich bin sogar, was ich nicht kaufe“, bringt Autor Misik die moderne Konsumlogik auf den Punkt.

Der Segen, der zum Fluch wurde
Früher galt Überfluss als Verheißung. In Utopien, religiösen Bildern oder politischen Visionen war er das Ziel: Ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Sozialisten wie Kapitalisten einte einst die Idee, dass mit technischem Fortschritt und wachsender Produktivität eines Tages alle Bedürfnisse befriedigt wären. Der britische Ökonom John Maynard Keynes etwa prophezeite 1930, dass das „ökonomische Problem“ bis spätestens 2030 gelöst sein würde. Die Not würde verschwinden, der Mensch wäre frei für Kreativität und Muße.
Doch das Gegenteil scheint eingetreten zu sein. Der materielle Überfluss ist Realität geworden – aber nicht für alle. Während der Reichtum in nie gekannter Höhe existiert, ist er extrem ungleich verteilt. In den oberen Schichten äußert sich das in exzentrischem Konsum, in den unteren oft in Unsicherheit: Wird mein Einkommen morgen noch reichen? Der Wohlstand hat viele nicht befreit, sondern ihre Angst verstärkt.
Misik weist auf ein zentrales Paradox hin: Statt zur Ruhe zu kommen, hat die Erfüllung alter Bedürfnisse neue geschaffen. Fortschritt bringt ständig neue Waren und Angebote hervor – und damit neue Sehnsüchte. Dabei geht es nicht nur um Manipulation. Oft wollen Menschen Dinge einfach, weil sie sie wollen. Wer kann schon anderen ehrlich sagen, was ein richtiges Bedürfnis ist? Kritik am Konsumverhalten ist gemäß Robert Misik, deshalb oft verkappter Hochmut: Ich kaufe nachhaltig, also bin ich besser. 
Karl Marx konstatierte vor 150 Jahren, dass die kapitalistische Produktionsweise nach Überfluss strebt. Allerdings nicht, um Bedürfnisse zu stillen, sondern um Mehrwert zu schaffen. Nachdem der Grundbedarf gedeckt ist, wird ständig nach neuen Reizen und Bedürfnissen gesucht, um den Konsum anzukurbeln. Werbung und Design sind entscheidende Mittel, um diese Maschinerie am Laufen zu halten.
Der Überfluss ist nicht bloß ein Zustand, er ist ein System. Ein Mechanismus, der Wünsche erzeugt, um sich selbst zu erhalten. Er erzeugt Gewinner und Verlierer, Identitäten und Illusionen. Und er lässt uns mit einer Frage zurück, die immer drängender wird: Wie viel ist genug, und für wen?
Mit dem Einsetzen des Massenwohlstands entstanden bald neue Überlegungen und Kritiken. John Kenneth Galbraith etwa prägte 1958 in seinem Buch The Affluent Society (dt.: Die Überflussgesellschaft) einen Begriff, der sich rasch verbreitete und als Schlagwort Eingang in die gesellschaftliche Debatte fand. Damit wandelte sich der Begriff Überfluss zunehmend von einem verheißungsvollen Versprechen zu einem negativ konnotierten Konzept, das mit Warenflut, Verschwendung und Überladung assoziiert wurde. Begriffe wie Milchseen und Fleischberge in den 1970er-Jahren machten öffentlich sichtbar, dass nicht alles, was produziert wird, auch sinnvoll ist. 

Materielle Überladenheit
Gleichzeitig entwickelte sich eine Entfremdungskritik: Überfluss wurde nicht länger nur als Chance, sondern auch als Problem wahrgenommen. Die Menschen, so die Diagnose, verlieren sich im Hamsterrad eines künstlich stimulierten Konsums. Neue Bedürfnisse werden gezielt geschaffen, die Konsumspirale dreht sich immer schneller, während die versprochene Entfaltung menschlicher Potenziale oft ausbleibt. 
Inzwischen gilt Überfluss in vielerlei Hinsicht als Krisensymptom. Er erschöpft die Ressourcen des Planeten und überfordert die natürlichen Lebensgrundlagen. Aber nicht nur die Natur leidet – auch wir Menschen sind betroffen. Begriffe wie Dauererschöpfung oder gesellschaftliche Erschöpfung beschreiben das Gefühl der Überforderung in einer Wettbewerbs- und Konsumgesellschaft, das von Soziologen wie Wolfgang Streeck, Siegfried Neckel und Heinz Bude treffend beschrieben wurde. 
Autor und Journalist Misik weist darauf hin, dass schon der Begriff Überfluss sprachlich die Nähe zum Überflüssigen trägt. In der Sprache schwingt also von vornherein eine Ambivalenz mit: Was einst Fülle bedeutete, klingt nun auch nach Ballast und Entbehrlichkeit. Diese sprachlichen Feinheiten spiegeln sich sogar in ökonomischen Konzepten wider: Bestandsgrößen (stocks) und Strömungsgrößen (flows) strukturieren unser Verständnis von Ressourcen und Wirtschaft – Überfluss betrifft also sowohl materielle Güter als auch den dynamischen Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur. Hier wird das Dilemma deutlich: Jede Produktion ist ein Eingriff in diesen Stoffwechsel. CO2-Emissionen etwa sind Nebenprodukte, die langfristig zur Destabilisierung des Klimas führen. So kehren die Folgen unseres Überflusses wie in der Frankenstein-Geschichte gegen uns selbst zurück. Der technische und wirtschaftliche Fortschritt produziert eine Metamorphose des Überflusses – aus materiellem Reichtum wird Hitze, Wasserknappheit oder Extremwetter, die unser Leben und das künftiger Generationen bedrohen.
Der einstige Fortschrittsoptimismus weicht heute einem Bewusstsein für die Ambivalenz jeder Entwicklung. Wir wissen mittlerweile: Kein Fortschritt kommt ohne Nebenfolgen. Dieses Ambiguitätsbewusstsein macht uns zwar klüger als frühere Generationen, es hinterlässt uns aber auch melancholischer, skeptischer und weniger begeisterungsfähig. Ob dies selbst ein Fortschritt ist, bleibt fraglich.

Zur Person

Robert Misik ist kritischer Denker, Theoretiker, Schrift-steller, Journalist & Blogger. Zu lesen ist er regelmäßig im „Falter“ oder in „Die Zeit“, im „Standard“ oder im „profil“ und in seinen pointierten Sach-büchern über die großen Themen unserer Zeit.

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