Julia Nehmiz

Fast eine Revolution

November 2018

Theater gelten als letzter Ort feudalistischer Arbeitsverhältnisse. Stephanie Gräve will das ändern: Die Intendantin des Vorarlberger Landestheaters Bregenz schafft bessere Arbeitsbedingungen.

Auf der Bühne sind sie strahlende Helden, bejubelt vom Publikum. Doch wenn der Vorhang fällt, ist der Glamour vorbei, der Arbeitsalltag der Darsteller prekär. Die geringen Gagen. Der Intendant, der den Lohn drückt oder selbst nach Jahren nicht erhöht. Schauspieler, die von einer Produktion zu nächsten gehetzt werden, die erst kurz vor Probenbeginn erfahren, in welchem Stück sie welche Rolle spielen. Widerworte? Eine andere Meinung? Schwierig – immer ist da die Unsicherheit, ob der Vertrag verlängert wird oder nicht.
„Theaterfolklore“ sei ein ziemlich guter Begriff, sagt Intendantin Stephanie Gräve. Die 49-Jährige leitet das Vor­arlberger Landestheater Bregenz, und mit Theaterfolklore meint sie das immer noch in vielen Köpfen zementierte Klischee, dass es eben am Theater schon immer so war. Niedriglohn, kaum Zeit für ein Privatleben, aber dafür die Ersatzfamilie „wir vom Theater“. Anders gesagt: die alten Strukturen, die patriarchalen, fast schon feudalistischen Arbeitsverhältnisse, in denen Schauspielerinnen und Schauspieler, Sängerinnen und Sänger, Tänzerinnen und Tänzer feststecken.
Gräve sitzt in ihrem neuen Intendanzbüro, aus dem Fenster blickt sie auf die Wand des Vorarlberg Museums gegenüber. Kahl ist es auch im Raum, Schreibtisch, halb leeres Regal, Tischchen und zwei Besuchersessel – sie sei noch immer nicht dazu gekommen, sich einzurichten, sagt Gräve. Ihre erste Spielzeit als Intendantin des Vorarlberger Landestheaters Bregenz ist wenige Wochen alt. Zur Ruhe kommt Gräve nicht. Will sie vielleicht auch gar nicht – so viel zu tun, so viel anzupacken, so viel anzustoßen!

Wie findet man die Sprache, um Menschen zu erreichen?

Sie lässt einen Kaffee aus der Maschine im Dramaturgiebüro nebenan. Letzte Spielzeit war das noch das Intendantenzimmer, aber Stephanie Gräve findet, sie alleine braucht nicht so einen großen Raum, den sollen lieber die Dramaturgen nutzen. Sie bittet in ihr Büro, stellt Schokolade und Shortbread auf den Tisch, man solle zugreifen. Und noch bevor man eine Frage stellen kann, ist Gräve schon am Erzählen. Von einer Premiere in Chur, in der sie Platzangst bekam, vom europäischen Balkony-Project, den „Omas gegen Rechts“, und landet in einer Analyse der aktuellen politischen Lage in Vorarlberg, Österreich und dann Europa. Ach, eigentlich wolle sie da gar nicht drüber reden, aber das beschäftige sie, denn: „Wie findet man die Sprache, mit der man die Menschen hier erreicht? Was sind gesellschaftliche Themen?“ Sie sei ja neu in Vorarlberg. Und dann spricht sie von Demokratie, Journalismus und der Frage, wie man zu einer Haltung, einer Meinung kommen soll. 
Das treibt sie um: Haltung, Meinung, nicht nur in der Politik, sondern auch im Alltag. Und im Arbeitsalltag. „Diese Machtstrukturen am Theater, dass alles ausgerichtet ist auf den einen Intendanten, das macht jede Arbeit schwierig“, sagt Stephanie Gräve.
Jetzt ist sie selber Intendantin. Und will es anders machen. „Ich als Einzelne kann über Menschen entscheiden, das fühlt sich nicht gut an“, sagt sie. „Aber ich gehe verantwortungsvoll damit um.“ Sie hat das Ensemble des Vorgängers nicht gekündigt, sondern übernommen – und vergrößert. 
Spitzengehälter kann sie keine zahlen. Ihr Theater sei das mit dem kleinsten Budget in Österreich; sie kalkuliert eng. Andere Häuser erhöhten die Anfängergage von 1850 auf 2000 Euro brutto pro Monat. Gräve zahlt 2200 Euro. Dafür spart sie beim Bühnenbildbudget. An anderen Theatern beträgt die Probenzeit für eine Produktion manchmal nur vier Wochen, Gräve lässt sieben Wochen proben. Und ihre Schauspieler erarbeiten jeweils vier Stücke im Jahr, nicht sechs oder sieben wie an anderen Häusern. Und sie hat ihr Ensemble gebeten, Wünsche zu einer Selbstverpflichtung zusammenzutragen – was ist eine gute Form des Miteinanders? Als sie ihre Schauspielerinnen und Schauspieler neulich zum Essen einlud und nach ihren Überlegungen zur Betriebsvereinbarung fragte, drucksten sie herum. Hm, naja, sie kamen noch nicht dazu, es war doch Spielzeiteröffnung, die vielen Proben, die Vorstellungen. 
Vielleicht zeigt das aber auch, dass Stephanie Gräve als Intendantin vieles richtigmacht. Vielleicht hat ihr Ensemble kein Bedürfnis nach einem Leitbild, weil Transparenz, Mitreden und ein fairer Umgang Alltag sind. „Ich glaube nicht daran, dass Menschen unter Druck, aus Angst um die Existenz, besser arbeiten. Das ist absurd“, sagt sie. An anderen Theatern ist das hingegen normal. Das hat Gräve schon immer gestört. Ein Ex-Intendant sagte einmal zu ihr: „Stephanie, das musst du lernen, Theater hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun.“ 
Das sieht sie anders. Gräve ist im Ruhrgebiet in einer, wie sie sagt, bildungsfernen Familie aufgewachsen, in Duisburg-Marxloh, einem Arbeiterviertel, heute berüchtigt als Problemquartier. Arbeiterrechte, christliche Nächstenliebe, damit sei sie groß geworden. Und sie sieht nicht ein, wieso das am Theater nicht auch möglich sein soll.
Deswegen engagiert sich Stephanie Gräve im Vorstand des Vereins „Art but Fair“. Der entstand aus einer Facebook-Aktion; vor sechs Jahren fand ein Musicaldarsteller, dass man mal aufschreiben müsste, was man am Theater so erlebe. Auf der Seite werden erbitterte Debatten geführt über Mindestgagen, die oftmals unterboten werden, über unbezahlte Proben oder Knebelverträge. Die Facebook-Seite schlug Wellen, Medien berichteten über die prekären Verhältnisse der Darstellenden. Bald gründete sich daraus der Verein „Art but Fair“. Streng genommen sind es drei Vereine, einer in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Ende Oktober lud Stephanie Gräve zum internationalen Vorstandstreffen an ihr Theater. Und stellte die neu gefassten Vereinsziele vor: Schwächen des Systems aufzeigen, Lösungen vorschlagen, nicht mehr nur auf Theaterskandale reagieren. Dem Verein schwebt ein Gütesiegel für freie Theaterproduktionen vor – wer fair bezahlt, bekommt es.

Vielleicht wird jetzt auf Fehler gelauert

Ob Stephanie Gräve nicht fürchtet, dass ihr das Engagement für Künstler übelgenommen wird? Dass sie besonders streng beobachtet, dass auf Fehler gelauert wird? „Vielleicht ist das so“, sagt sie. Aber ihr geht es nicht um Öffentlichkeit. Sondern um Fairness. 

Dieser Artikel ist im St. Galler Tagblatt am 16. November 2018 erschienen, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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