Walter Schmolly

Direktor der Caritas Vorarlberg

(Foto: © Maurice Shourot)

Genug ist genug

Dezember 2016

Ein Quotenbringer ist das Thema „Genügsamkeit“ mit Sicherheit nicht. Noch nicht. Denn zumindest der Sache nach wird uns früher oder später die Auseinandersetzung mit der Frage „Wann ist es genug?“ nicht erspart bleiben. Und das ist auch ein Glücksfall – wie sich beim zweiten Hinschauen herausstellt.

Der Preis des „immer mehr“

„Besser“ ist in unserem Lebensgefühl weitgehend gleichgesetzt mit „mehr“. Die Bilder von Wohlstand und die Vorstellungen von gutem Leben sind von Fantasien des Habens und der damit verbundenen Sicherheiten besetzt: mehr Geld, mehr Macht, mehr Ansehen. Die konsumistisch-kapitalistische Logik hat mehr oder weniger alle Lebensbereiche kolonialisiert. Der Preis dieses „Es ist nie genug, es könnte noch mehr sein“ ist hoch und tritt zusehends deutlicher zutage: in den vielen Erfahrungen von Erschöpfung, vom „erschöpften Ich“ bis zum erschöpften Planeten; in der Angst vieler Menschen in den Wohlstandsländern, zu kurz zu kommen und am Wohlstandskuchen nicht mehr genug mitnaschen zu können; in den daraus resultierenden gesellschaftlichen und politischen Polarisierungen und Verwerfungen; in unserem „ökologischen Fußabdruck“, der zweieinhalbmal zu groß ist und durch die Klimaveränderung auf Kosten der Armen in den Ländern des Südens geht; in ausbeuterischen wirtschaftlichen Beziehungen Europas mit afrikanischen Ländern und anderem.

Aber es kann auch anders sein – das ist die gute Nachricht. Genügsamkeit macht das Leben nicht schlechter, im Gegenteil. Im Lande der Genügsamkeit leben große Erfahrungen – so sagen alle, die einen Fuß hineingesetzt haben: Freiheit, Verbundenheit, Dankbarkeit, Zufriedenheit, Glück.

Die Zeit ist reif

Die Caritas hat die heurigen Caritasgespräche diesem Thema gewidmet: „Genügsamkeit: sich auf Unfertiges einlassen“. Die Zeit ist reif für einen breiten Diskurs zu diesen Fragen. Viel steht auf dem Spiel: in unseren westlichen Wohlstandsländern der soziale Frieden, in den Ländern des Südens die Überlebensmöglichkeiten vor Ort für sehr viele Menschen. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Amerika, aber auch in Österreich, die Dürrekatastrophe in Äthiopien und den benachbarten Ländern und die Flucht von Millionen von Menschen haben viele Ursachen, eine wesentliche Triebfeder aber ist die Dynamik des „immer mehr“. Viele Benachteiligte und solche, die um ihren Wohlstand fürchten, sind nicht mehr bereit, den Preis zu zahlen und zunehmend von der Teilhabe an Lebensmöglichkeiten ausgeschlossen zu sein. In diesen zentralen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und vieler globaler Entwicklungen braucht es den offenen Dialog, in dem das Neue, das es hervorzubringen gilt, sich Schritt für Schritt abzeichnen und konkretisieren kann.

Innen und Außen, Herz und Struktur

Vor vierzig Jahren hat Erich Fromm sein Buch „Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ herausgebracht. Der Untertitel offenbart die Frage, die den Psychoanalytiker und Sozialpsychologen umtrieb, nämlich wie das Leben der Menschen und das Zusammenleben gelingen können und was hierfür die Bedingungen in den Seelen und in den Herzen der Menschen und in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen sind. Für ihn war klar, dass beide gegenseitig aufeinander einwirken, das Innen und das Außen, das Herz und die Struktur. Wenn Konkurrenz und Wachstum um jeden Preis das Wirtschaften bestimmen, dürfe man sich nicht wundern, dass Vertrauen, Empathie und Verlässlichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen geschwächt werden, so wie auch umgekehrt die innere Verankerung im Sein anstatt im Haben anderen wirtschaftlichen Strukturen und einer erneuerten Gesellschaft den Boden bereite.

Am Maß des Menschlichen ausrichten

Die letztlich entscheidende Frage ist, woran wir im Leben, in unserem Miteinander und in der Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen das Maß nehmen. Für die Caritas sage ich klarerweise: am Menschlichen. Dem wird wohl niemand grundsätzlich widersprechen – bis es konkret wird. Dann spüren wir alle, dass das, was leicht gesagt ist, nicht ganz so einfach gelebt wird.

Die Ausrichtung am Maß des Menschlichen beginnt für jeden Menschen bei sich selber. Zu unserem menschlichen Maß gehören die Endlichkeit, das Unfertige, die seelischen Wunden und die Ohnmacht. Maß am Menschlichen zu nehmen heißt, dies zu bejahen und zu integrieren – entgegen allen mehr oder weniger bewussten Fantasien, durch die Genüsse des Konsums das Heil jenseits dieser Grenzen zu finden.

Das menschliche Maß muss aber auch neu erschlossen werden in den Bildern, die wir uns vom Wohlstand und vom gelingenden Leben machen. Wir benötigen Bilder eines genüsslichen und schönen Lebens, das entkoppelt ist vom Zwang zum konsumistischen Mehr. Mit „Small is beautiful“ hat der Autor Ernst F. Schumacher die Rückkehr zum menschlichen Maß in den 1970er-Jahren überschrieben. Heute muss das Motto sein: „Less is beautiful.“ Es braucht eine Lebenskunst, die die wahren und die entfremdeten Bedürfnisse zu unterscheiden vermag und in der die wahrhaftigen und sinnstiftenden Erfahrungen der Genügsamkeit, der Reduktion auf das Wesentliche und der Empathie ihre Kraft entfalten können. Menschliches Wachstum folgt nicht der Logik des Konsums und des Habens, sondern der Logik des Seins und damit der Verbundenheit mit sich und untereinander. Wer kennt nicht die Zufriedenheit, die aus einem schöpferischen oder sozialen Tun erwächst?

Und weil das Innere und das Äußere sich gegenseitig bedingen, ist ein ebenso dringliches Gebot der Stunde, dass vor allem Politik und Wirtschaft ihr Maß und ihre Ausrichtung am Menschlichen und am Gemeinwohl nehmen. Dieses Gemeinwohl muss heute alle Menschen dieser Welt im Blick haben, was nichts anderes heißt, als dass wir auch Wege finden müssen, so zu leben und die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Ländern des Südens so zu gestalten, dass die Menschen dort in Würde leben können.

So manche zivilgesellschaftliche Initiative erprobt zwischenzeitlich neue Pfade jenseits des „Es ist nie genug“ – gerade auch junge Menschen: „freigeist – junge initiative arbogast“, „be the change“, „slow food“ und wie sie alle heißen. Da wird experimentiert und reflektiert und das gute Maß gesucht. Ein Hoffnungszeichen!

Wieder einmal stehen wir im Advent. Was äußerlich wie das Hochfest des „Heils im Mehr an Konsum“ erscheint, ist im Innern die Ausrichtung auf die christliche Feier der Weihnacht, in der Gott das Menschliche ein für alle Mal zum Maß des Lebens gemacht hat. Möge es uns stärken!

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