Sibylla Zech

Neue Wege für das zersiedelte Rheintal

Februar 2015

Zwei parallele Autobahnen, historische Altstädte und ländliche Ortskerne, neue und alte Wirtschaftsgebiete, umrahmt vom Alpenpanorama, das sich zur Bodenseelandschaft hin öffnet – Rahmenbedingungen für Lebens- und Standortqualität, wie man sie selten findet. Doch das Rheintal ist vielerorts auch unwirtlich und zersiedelt.

Eine halbe Million Menschen leben im Alpenrheintal, davon 250.000 in den 29 Vorarlberger Rheintalgemeinden. Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftskraft, räumliche Lage und Infrastruktur machen die Region zu einer der dynamischsten Agglomerationen in Europa. Aber – diese Entwicklung ist auch raumgreifend. Wir verbrauchen pro Bewohner bzw. Arbeitsplatz fünfmal so viel Platz für Bau- und Verkehrsflächen wie vor 50 Jahren. In der Wachstumseuphorie der 1960er/1970er-Jahre hatte man begonnen, großzügig Wohn- und Betriebsgebiete auszuweisen. Mit der Automobilisierung und der damit vermeintlich grenzenlosen Erreichbarkeit wanderten Handel, Dienstleistungen und Arbeitsplätze zunehmend an die Stadt- und Ortsränder. Dies führte zu einer Ausdünnung von Orts- und Stadtkernen und zu zersplitterten und lückigen Siedlungs- und Betriebsgebieten, deren Erschließung für die Bevölkerung, die Wirtschaft und die öffentliche Hand hohe Kosten verursacht.

Das knappe Bauland

42 Prozent der im Vorarlberger Rheintal gewidmeten Bauflächen sind nicht genutzt. Hier könnten bei gleichbleibend geringer Baudichte rechnerisch weitere 170.000 Bewohner und 70.000 Arbeitsplätze angesiedelt werden. Doch das meiste Bauland ist nicht verfügbar. Seit der globalen Finanzkrise ist der Bodenmarkt noch enger geworden. Investoren kaufen und horten Bauland als Wertanlage. Die Verknappung des Angebots treibt die Preise weiter hinauf, sodass Bauland für Wohnungssuchende und Bauträger kaum mehr leistbar ist – eine Spirale, die trotz Baulandüberhang Druck zu Neuwidmungen erzeugt. Wie können wir vor diesem Hintergrund den Raum Rheintal zukunftsfähig – wirtschaftlich erfolgreich, sozial leistbar und ökologisch vielfältig – gestalten?

Die Strategie muss lauten: Innenentwicklung mit Qualität. Wir werden uns viel stärker auf das Umbauen, Anpassen, Umnutzen, Revitalisieren und Ergänzen des Bestands zu konzentrieren haben. Diese Prioritäten sind besonders im Hinblick auf die Energiewende und den gesellschaftlichen Wandel von Bedeutung. Viele Rheintalgemeinden haben aktive Planungsprozesse aufgenommen und umgesetzt und ehemalige Industriestandorte erfolgreich neu belebt. So sind Kultur- und Veranstaltungsorte, Wohnbauten, Gewerbeparks, Freizeiteinrichtungen und Grünanlagen oder Kombinationen davon entstanden – lebendige Stadt- und Ortsquartiere. Auch die Entwicklung der Bahnhofsbezirke geht in diese Richtung.

Schwierige Gebiete

Eine unterschätzte Herausforderung stellen hingegen die ausgedehnten Einfamilienhausgebiete dar. Viele Häuser werden nur noch von ein bis zwei meist älteren Menschen bewohnt – überfordert mit dem großen Haus und dem Garten, zu weit weg von Geschäften, vom Arzt, von Bank und Post, ohne komfortablen Zugang zu einem öffentlichen Verkehrsmittel, um den Alltag eigenständig bewältigen zu können. Häuser, so sie auf den Markt kommen, werden abgerissen und durch Wohnblöcke ersetzt, deren Außenflächen – Stellplätze, Garageneinfahrten und eventuell Erdgeschoßgärtchen – keinen Spiel- und Erholungsraum bieten. Die Bebauung ergibt unattraktive Straßenräume, und auch wenn der Flächenverbrauch pro Wohnung sinkt, reicht die Dichte nicht aus, um die Erschließung mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder die Ansiedlung von Nahversorgungseinrichtungen zu ermöglichen. Für den Erneuerungsprozess in Einfamilienhausgebieten braucht es innovative Lösungsmodelle sowohl für die städte- und ortsbauliche Konzeption einer verträglichen Nachverdichtung als auch für die Gestaltung von Beratungs- und Beteiligungsprozessen für und mit Bewohnern, Eigentümern, Bau- und Kaufinteressenten sowie den Baubehörden und Förderstellen.

Innovation muss kommen

Lösungsmöglichkeiten bieten etwa Zubauten bzw. Umstrukturierungen im Haus, um getrennt begehbare Wohneinheiten, Start- und Singlewohnungen, betreutes Wohnen oder Wohngemeinschaften unter einem Dach zu ermöglichen, Erleichterungen bei der Grundstücksteilung, Leerstandsmanagement –  etwa mit dem Fokus „Jung kauft Alt“ – oder gesamthafte Gestaltungsprozesse für größere zusammenhängende Bauflächenreserven. Einen solchen integrativen Mitwirkungsprozess verfolgt aktuell Nenzing mit dem Areal des alten Sportplatzes, das inmitten eines Einfamilienhausgebiets und unmittelbar am Bahnhof liegt. Bauen in der Reihe und in der Gruppe soll an das Siedlungshaus mit Garten anknüpfen, durch das Zusammenrücken der Bebauung entstehen leistbare Grundstücksgrößen sowie öffentliche und gemeinschaftliche Räume, ein verkehrsberuhigter und gut erreichbarer Siedlungsteil, der Aufgaben für die ganze „alte“ Siedlung übernimmt.

„Innenentwicklung statt Außenentwicklung“ ist an sich nichts Neues. Das Raumplanungsgesetz, die Planungsdokumente der Gemeinden und die bereichsweise gepflegte interkommunale und interregionale Zusammenarbeit formulieren den Grundsatz, die Siedlungsränder zu halten. Eine räumliche und thematische Schwerpunktsetzung zum „Umkehrschub“ der Siedlungsentwicklung von außen nach innen fehlt jedoch auf Landesebene. Ein Blick dazu in die Schweiz: Nach Vorgabe des Schweizer Bundesgesetzes für Raumplanung ist die Siedlungsentwicklung verbindlich nur mehr nach innen zu lenken. Es sind kompakte Siedlungen zu schaffen, die Siedlungserneuerung ist zu stärken und die inneren Nutzungsreserven sind zu mobilisieren. Die Verbindlichkeit basiert auf dem jüngst novellierten Schweizer Raumplanungsgesetz, das eine klare Mehrheit bei der Abstimmung durch das Volk erhielt und nun konsequent über die kantonale und kommunale Planung umzusetzen ist. Das Energie- und Ressourcenthema ist in der Bevölkerung angekommen. Auch in Österreich fordert die Gesellschaft Flächensparen und Raumordnung ein – in der Steiermark gibt es eine Bürgerinitiative dieses Namens. In Vorarlberg hat sich der Verein „Bodenfreiheit“ das Ziel gesetzt, Boden frei und zugänglich zu halten.

Änderung der Mobilitätskultur

In Teilen der Gesellschaft können wir eine Änderung der Wohnideale sowie der Mobilitätskultur beobachten: Es muss nicht immer das freistehende Einfamilienhaus sein – man sieht die Vorteile verdichteter Bauweisen. Es muss nicht immer alles neu sein – renovieren und nachverdichten im Altbestand hat Charme. Gemeinschaftsmodelle wie Baugruppen, urban farming, Carsharing und Fahrgemeinschaften, smart connected mit Öffi und Fahrrad unterwegs zu sein gehören zu neuen Werthaltungen des Nutzens statt Besitzens. Dominieren „Eigentum“ und „Eigennutz“ den heutigen Zeitgeist und Wertemaßstab zum Umgang mit dem Raum noch? Ja, aber eine Raumplanungspolitik mit Erfolgsaussichten wird guten Mutes auf ihre Kernaufgabe setzen: das räumliche Gemeinwohl, für das Raumplanung gesetzlich verantwortlich ist. Qualitätsvolle Innenentwicklung ist die Stoßrichtung dazu. Bon courage

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