Robert Spiegel

* 1957, Arzt für Allgemeinmedizin, ist der Covid-Beauftragte der Ärztekammer Vorarlberg. Der diplomierte Notarzt und frühere leitende Arzt der Flugrettung Vorarlberg war auch für die Vereinten Nationen tätig, hatte beispielsweise Einsätze nach Naturkatastrophen in der Karibik, in Nigeria, in Nepal und im Nahen Osten. Auch war Spiegel im Jahr 2005 nach dem verheerenden Tsunami in Thailand im Einsatz.

Pandemie – Quo vadis?

September 2022

Pandemien sind nichts Neues, die Covid-19-Pandemie ist bereits die dritte Pandemie des 21. Jahrhunderts, neben der SARS-Pandemie 2002 und der Schweinegrippe 2009 – bei zwei Pandemien im 20. Jahrhundert, der Spanischen Grippe 1918 mit über 30 Millionen Toten und der Cholera-Pandemie ab 1961. Historisch gesehen sind noch die Pest und die Pocken für weitere pandemische, also weltweite Erkrankungswellen verantwortlich.
Man muss mittlerweile schon Wikipedia bemühen, um sich das Geschehen der Covid-Pandemie seit dem 31. Dezember 2019, dem Tag, an dem zum ersten Mal in China eine neuartige, noch unbekannte Lungenentzündung bestätigt wurde, in Erinnerung zurück zu rufen. 
Wir erinnern uns an den März 2020, die ersten Reisebeschränkungen und Hotspots, Südtirol oder Thailand, an die Ereignisse um Ischgl, an den ersten Lockdown und die fast wohltuende Ruhe, die damals eingekehrt war, an Grenzsperrungen mit Hilfe des Bundesheeres und der Feuerwehr, an Durchreise­bestimmungen und Wahl­absagen, an Schließung der Schulen und Universitäten, Ausgangssperre und Maskenpflicht und den Babyelefanten. Die Bilder aus der Lombardei und anderer schwer betroffenen Regionen waren immer präsent.
Die saisonale Entspannung bescherte uns einen halbwegs normalen Sommer 2020, bis bereits Ende August die Anzeichen einer neuen Welle erkennbar waren. Testen wird zum Volkssport. Der nächste Lockdown wird Mitte November verkündet und nach einer Lockerung über die Weihnachtsfeiertage wieder mit Jahresbeginn 2021 eingeführt. Die Impfungen sind eingetroffen, Schlangen vor den Impfzentren, die große Aufregung um Impfdrängler lässt aus heutiger Sicht schmunzeln. Der Sommer 2021 entspannt die Situation erneut, bis im Herbst die neue Virusvariante Omicron zu einer weiteren Ausgangsbeschränkung führt.
Wir sind zur Jahreswende 2021/22 mittlerweile Testweltmeister und Impfletzte, das Gesundheitssystem zum dritten Mal am absoluten Limit und wir haben eine Ampel. Der aktuelle Rückgang des Infektionsgeschehens wiegt uns in fraglicher Sicherheit in diesem heiß-trockenen Sommer. Die weltweite Bilanz bisher laut John Hopkins CRC (Corona­virus Resource Center): 600 Millionen Erkrankte, 6,5 Millionen Tote, Tendenz wieder steigend. 
Wir erkennen zunehmend die kollateralen Schäden, die sozioökonomischen Auswirkungen, eine gespaltene Gesellschaft, die Folgen der Schulschließungen und der Isolation der jungen Bevölkerung, die wirtschaftlichen Schäden, die Erschöpfung im Gesundheitssystem, die kulturelle Ausdünnung, den Hass im Netz und ein gewachsenes Protestpotenzial nach all den Verordnungen und Regelungen zur Eindämmung des pandemischen Geschehens in den vergangenen zweieinhalb Jahren.

Quo vadis Pandemie? 
Alle Bemühungen, die auf den Weg gebracht wurden, konnten dem Weg des Virus nur folgen, antizipieren war nie möglich. Das Ergebnis waren oft sehr frequent wechselnde Verordnungen, überhöhte Erwartungen in die verschiedenen Maßnahmen und damit ein Vertrauensverlust in Politik und Wissenschaft in der Bevölkerung. 
Und dennoch, wir haben mittlerweile gelernt, besser mit dem Geschehen umzugehen. Wir haben die Impfung und wirksame Medikamente zur Verhinderung schwerer Verläufe einer SARS-Covid-Infektion. Noch nie wurde weltweit in einem solchen Ausmaß gemeinsam geforscht, Ergebnisse und Daten ausgetauscht, noch nie wurden in so kurzer Zeit wirksame Impfstoffe entwickelt und zur Verfügung gestellt. 
Wir haben mittlerweile eine logistische Infrastruktur errichtet, die uns deutlich besser und schneller reagieren lässt und als Grundlage für kommende Pandemien bestehen kann. 
Homeoffice, Videokonferenzen bis hin zur Einführung der E-Rezeptur für Medikamente haben die Möglichkeiten der digitalen Welt aufgezeigt, sie sind heute selbstverständlich. 
Abseits der oft zu lauten Kritik am Fortgang der Pandemie haben sich überall Netzwerke gebildet, privat, in der Freizeit, aber auch beruflich, die sich gegenseitig unterstützt haben und weiter bestehen.

Pandemie als Chance!
Wir sind für den Herbst 2022 deutlich besser aufgestellt als in den Jahren zuvor. Nutzen wir diese Chancen gemeinsam, um das Infektionsgeschehen und eine neuerliche Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern. Nutzen wir diese Chancen gemeinsam, um als Gesellschaft wieder zusammen zu finden; nutzen wir die Chance, mit möglichst wenig „social distancing“ die kommenden Monate zu bewältigen. Das sichert neben unserer eigenen Gesundheit die Bildung, die Kultur und vor allem die Wirtschaft, deren Stabilität unsere unmittelbare Zukunft garantiert.
Ein kompletter Impfschutz, also drei Impfungen unabhängig von durchgemachten Covid-Infektionen für möglichst viele, ist die Basis dafür. Impfungen schützen, entgegen ursprünglichen Hoffnungen, nicht vor einer Infektion, sind aber hochwirksam, einen schweren Verlauf und damit auch Long Covid Erkrankungen zu verhindern. Zur Zeit sind lediglich 55 Prozent der Vorarlberger ausreichend immunisiert!
Eine frühzeitige Verwendung antiviraler Medikamente und Antikörper, besonders für Risikopatienten im Falle einer Infektion, ist mittlerweile etabliert, nicht zur Behandlung, aber ebenfalls als Vorbeugung für einen schweren Verlauf und Hospitalisation. 
Die dritte wichtige Säule wird der ehrliche Umgang mit einer eigenen Covid-Infektion – Selbstisolation und „social distancing“ zum Schutz des persönlichen Umfeldes – sein, also die klassischen Waffen der Pandemie – Maske, Abstand und Desinfektion – bis zum sicheren Ausschluss einer Ansteckungsgefahr für Dritte 
Das Coronavirus, in welcher Form auch immer, wird nicht mehr verschwinden. Lernen wir damit zu leben, uns bestmöglich zu schützen und eine Pandemie, also eine weltweite Ausbreitung eines sehr ansteckenden Virus, zu verstehen – offen und unaufgeregt. 

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