Michael Butter

 * 1977 in München, ist Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen und Buchautor.
Zu Butters Forschungsschwerpunkten gehören Verschwörungstheorien. Sein Buch „Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“ ist 2018 bei Suhrkamp erschienen.

Verschwörungstheorien im Zeitalter des Internets

März 2020

Wer in den 1970er Jahren überzeugt war, dass die Amerikaner nie auf dem Mond gewesen waren, sondern die Mondlandung in einem Fernsehstudio inszeniert worden war, um die Öffentlichkeit zu täuschen, tat sich äußerst schwer, ein Publikum für diese Verschwörungstheorie zu finden. Leserbriefe an Zeitungen landeten direkt im Papierkorb der Redakteure, und seriöse Verlage waren nicht an entsprechenden Manuskripten interessiert. Verschwörungstheoretiker, die sich mit diesem oder anderen Themen wie der Kennedy-Ermordung beschäftigten, veröffentlichten ihre Erkenntnisse daher in kleinen Verlagen, die sich auf Ufos, Verschwörungstheorien und Esoterik spezialisierten, oder brachten Bücher und Zeitschriften gar im Selbstverlag heraus. 
Diese fanden so zwar einige Leser, erreichten aber keine Breitenwirkung. Das lag auch daran, dass diejenigen, die Zweifel an den offiziellen Versionen zur Mondlandung und zum Kennedy­attentat hegten, aber selbst keine Verschwörungstheorie dazu entwarfen, weil ihre Verdächtigungen vage blieben, große Probleme hatten, alternative Erklärungen zu finden. Sie mussten einiges an Zeit und Geld investieren, um in obskuren Buchhandlungen oder auf ein- oder zweimal jährlich stattfindenden Konferenzen die Werke der Verschwörungstheoretiker zu finden und zu erwerben. Es gibt natürlich keine verlässlichen Zahlen dazu, doch man kann davon ausgehen, dass dies einigen Zweiflern zu viel der Mühe war. Sie wurden nicht zu wirklichen Verschwörungstheoretikern. 
Seitdem das Internet zum Massenmedium geworden ist, ist das völlig anders. Die traditionelle Wächterfunktion der Medien ist durch die Möglichkeiten des World Wide Web größtenteils ausgehebelt worden. Diese Einebnung von Wissenshierarchien ist nicht per se problematisch, wie man an Projekten wie Wikipedia sieht, deren englischsprachige Version in vielen Bereichen eine ausgezeichnete Qualität erreicht und ungleich aktueller ist als eine traditionelle Enzyklopädie. Aber die Produzenten von Verschwörungstheorien tun sich nun erheblich leichter, ihre Ideen über Diskussionsforen, Blogs, Soziale Medien oder die Kommentarfunktion auf den Seiten der Mainstreammedien zu verbreiten. Entsprechend leicht tun sich mittlerweile auch diejenigen, die nach Alternativen zu den offiziellen Versionen suchen. Mit wenigen Mausklicks gelangt man mitunter von einem seriösen Artikel über Hillary Clinton zu einer Seite, die Clinton als Agentin der Neuen Weltordnung zu entlarven versucht. 
Und wer bei Google einmal „Was passiert in der Ukraine?“ oder „Wer steckt hinter der Flüchtlingskrise?“ eingibt, landet, je nach individueller Suchhistorie, auf der ersten, spätestens aber auf der zweiten Ergebnisseite bei Links zu eindeutig konspirationistischen Seiten. Niemand muss mehr Zeit und Geld investieren; die alternative Wahrheit ist nur noch eine Google-Suche entfernt. Durch diese ungleich höhere Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien hat mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Zahl derjenigen, die an Verschwörungstheorien glauben, wieder zugenommen. 
Es gibt zwar keine Zahlen zu den siebziger und achtziger Jahren, doch es ist davon auszugehen, dass die leichte Verfügbarkeit konspirationistischer Erklärungen dazu führt, dass wieder mehr Menschen von Verschwörungstheorien überzeugt werden als in einer Zeit, in der entsprechende Erklärungen deutlich schwerer zu finden waren. Allerdings ist auch davon auszugehen, dass diese Zunahme eher moderat und graduell ist. Mit Sicherheit ist sie nicht so rapide, wie es auf den ersten Blick manchmal erscheinen mag. Dass die Zahl derjenigen, die an Verschwörungstheorien glauben, durch das Internet zunimmt, hat sicher auch damit zu tun, dass dieses die Vernetzung mit Gleichgesinnten deutlich erleichtert hat. Vor dem Aufkommen des Internets konnten sich Verschwörungstheoretiker als Gruppe nur wenige Male pro Jahr austauschen, indem sie sich auf Konferenzen trafen – und wie bereits erwähnt, mussten sie dafür einiges an Zeit und Mühe in Kauf nehmen. Heute dagegen sind sie online kontinuierlich in Kontakt miteinander. 
Es ist davon auszugehen, dass durch die Existenz solcher virtueller Gemeinschaften der Einfluss des realen Umfelds abnimmt. Wer vor dreißig Jahren der einzige in seinem Viertel war, der an eine bestimmte Verschwörungstheorie glaubte, wurde im Gespräch mit Nachbarn sicherlich leichter umgestimmt als heute, da man für die eigene Position ständig die virtuelle Bestätigung bekommen kann, die im realen Leben vielleicht fehlt. 
Die Tendenz, dass wir online, wenn wir uns nicht sehr bemühen, fast ausschließlich mit Informationen konfrontiert werden, die unsere bereits bestehende Meinung weiter bestärken, ist in den vergangenen Jahren unter den Stichwörtern „Echokammern“ und „Filterblasen“ viel diskutiert worden. Die Algorithmen der Suchmaschinen und der sozialen Medien, die wir benutzen, sorgen dafür, dass in unseren Ergebnislisten und Newsfeeds fast ausschließlich Treffer und Meldungen erscheinen, die bestätigen, wovon wir ohnehin schon überzeugt sind. 
Diese Tendenz ist unter Anhängern von Verschwörungstheorien besonders ausgeprägt, wie ein Team um die Mathematikerin Michela Del Vicario (2016) vor kurzem in einer großen empirischen Studie nachgewiesen hat. Verschwörungsgläubige neigen dazu, sich in besonders stark von anderen abgegrenzten Online-Communities zu bewegen und auszutauschen. Diese Tendenz wird dadurch noch weiter bestärkt, dass in den Jahren eine ganze Reihe von vor allem in Netz aktiven Alternativmedien entstanden sind, die für sich in Anspruch nehmen, der angeblichen tendenziösen, mitunter sogar bewusst manipulativen Berichterstattung der traditionellen Medien eine der Wahrheit verpflichteten Berichterstattung entgegenzustellen. 
Was es für Gesellschaften bedeutet, wenn in verschiedenen Teilbereichen über dieselben Themen aber auf völlig unterschiedliche Weise diskutiert wird, bleibt abzuwarten.

Dieser Artikel ist in längerer Form in der Zeitschrift „Deutschland & Europa, Ausgabe 74“ erschienen. Die Publikation wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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