Olaf Sailer
 © Fotos: Florian Lechner, Mirjam Kluka, privat

Von der Hölle auf Erden

Oktober 2018

Die Hölle auf Erden hat viele Gesichter: von den Torturen der Sucht über das Leben mit Gewalt bis zu quälender Armut – und von der Beziehungshölle über die Tücken der Blutsbande bis hin zur teuflischen Desinformation im digitalen Zeitalter. Perspektiven- und erkenntnisreich beleuchteten namhafte Experten beim Philosophicum 2018 geradezu infernalische Aspekte des Lebensalltags.

Weit über 600 Teilnehmer fanden sich beim Philosophicum Lech in dem weltweit bekannten Wintersportort ein, dessen hochalpine Umgebung auch im Sommer von ganz besonderem Reiz ist. Ein Punkt, von dem aus sich speziell der Himmel bewundern lässt, ist das Tannegg auf 1780 Meter in Oberlech. Erst kürzlich, am 17. September, wurde hier der „Skyspace Lech“ eröffnet: ein von Lichtkünstler James Turrell konzipierter, größtenteils unterirdischer Bau mit öffenbarer Kuppel. Als geradezu mystischer Lichtraum am Berg eröffnet das begehbare Kunstwerk außergewöhnliche Wahrnehmungen, worauf Landeshauptmann Markus Wallner bei seinen Grußworten zur Eröffnung des 22. Philosophicum Lech zu sprechen kam: „Der Skyspace ermöglicht einen unglaublichen Blick in den Himmel – und das Philosophicum jenen in die Hölle.“ Angesprochen wurde von ihm damit das heurige Thema: „Die Hölle. Kulturen des Unerträglichen.“ Dass Letztere weder chaotisch noch anarchisch sind, sondern vielmehr Regeln, Ritualen, Zwängen und Wiederholungen gehorchen, erläuterte der wissenschaftliche Leiter des Philosophicum Lech, Konrad Paul Liessmann, in seinem Vorwort zur Veranstaltung. Während an Tag eins vor allem die Vorstellungswelten zur Hölle in Kunst und Religion im Fokus standen, gerieten an Tag zwei die ganz konkreten infernalischen Aspekte unserer Lebenswelt in den Blick. Jene erschreckenden, doch leider oft auch alltäglichen Facetten einer „Hölle auf Erden“ – gemäß dem Anspruch der international renommierten Tagung, Antworten auf brennende Fragen der Zeit zu geben und einen wertvollen Beitrag zu gesellschaftlich relevanten Diskursen zu leisten, präsentierte sich Philosophie lebensnah und brisant.

Die Macht der Desinformation

Den ersten Vortrag am Samstag hielt der deutsche Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, ein scharfzüngiger Kommentator aktueller Debatten. Unter dem Titel „Die Hölle der Desinformation. Spielregeln der Wirklichkeitsordnung im digitalen Zeitalter“ entwarf der Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen eine Ethik für unsere Ära der Neuen Medien und grassierenden Fake-News. Ausgehend vom Fallbeispiel eines der bestbezahlten US-Radio-Talker, des Trump-Freunds und Verschwörungstheoretikers Rush Limbaugh, übte Pörksen zunächst Kritik am Postulat, wir befänden uns im postfaktischen Zeitalter. Fake-News seien bloß Oberflächenphänomene: „Indizien einer tektonischen Verschiebung der Informationswirklichkeit, Symptome einer elementaren Deregulierung des Wahrheitsmarktes“, wie er pointiert anmerkte. Der Macht der Desinformation sei mit einer Bildungsoffensive zu begegnen, welche von der digitalen zu einer redaktionellen Gesellschaft überführen soll. Darunter versteht er eine Gesellschaft, in der die Ideale und Maximen des guten Journalismus zu einem Element der Gemeinbildung geworden sind. Seine Handlungsempfehlung: „Wir, die wir früher das Medienpublikum genannt wurden, müssen medienmündig werden, weil wir längst medienmächtig geworden sind. Wir müssen medienmündig werden, weil eine Demokratie von einem Minimum an kollektiv akzeptierter Information lebt. Und weil Öffentlichkeit, verstanden als der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie, gerade jetzt – in diesem Moment – neu definiert wird.“

Der Horror der Sucht

Im Anschluss referierte Psychiater Reinhard Haller über eine wahre „Höllenfahrt“, zu der legale und illegale Drogen sowie substanzunabhängige Abhängigkeiten einladen: „Vom Himmel des Rausches zur Hölle der Sucht.“ Rausch und Sucht seien ein Modell des Zusammenspiels, ja der Zusammengehörigkeit von elysischem Glück und quälendem Siechsein, aber auch für die Limitierung dieser beiden Pole durch den jeweils anderen. Sucht, dieses vielwurzelige, komplexe Phänomen, könne auch als Versuch einer Selbstheilung, einer „Selbstmedikation“ des Abhängigen verstanden werden. Allerdings als gründlich danebengehender Versuch. „Statt zur positiven Entrückung kommt es zur pathologischen Verrückung, schon gar nicht zur Entzückung, sondern zum Horror.“ Das eigentliche Wesen der Sucht würde in der Dominanz und Übermacht von Suchtmittel und Suchtverhalten sowie im damit einhergehenden Autonomieverlust des konsumierenden Individuums liegen – in der Hölle des Gefangenseins. Die Therapie sei gleichsam ein Fegefeuer, sowohl im Erleben des Patienten als auch in den Augen der Therapeuten. Es ginge darum, den Rausch zu domestizieren – oder wie schon Platon gemeint habe, „in der Befriedigung seiner Begierden Herr seiner selbst zu bleiben“.

Über Armut als Verdikt

„Höllen der Armut“ lautete wiederum der Titel des Vortrages von Philipp Lepenies, einem Gastprofessor für vergleichende Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. „Natürlich ist Armut oft die Hölle. Aber kann es nicht auch der Himmel sein?“, stellte er eine – zunächst – provokant wirkende Frage. Das Schwanken zwischen diesen beiden Positionen bestimme sozialpolitische Debatten seit vielen Hundert Jahren. Auf der einen Seite die Erkenntnis, dass Armut die Hölle sein muss. Auf der anderen Seite die Position, dass die Armut – vor allem durch vermeintlich zu generöse Unterstützung – vielleicht bereits der Himmel auf Erden sein könnte. Jedenfalls seien es meistens die Nicht-Armen, die sich ein Urteil darüber erlauben, wobei deren Reaktion immer eine Einschätzung bezüglich der Persönlichkeit der Armen beinhalte. So ist immer wieder davon die Rede, dass Arme faul seien oder gar Schmarotzer. Lepenies erzählte da die Geschichte vom ersten europäischen Sozialsystem in England, das mehr als 250 Jahre überdauerte, bis das marktliberale Dogma sich durchsetzte, das System abgeschafft wurde und es zu einer Verelendung der Massen kam. Der Clou daran: Der politischen Überzeugung wurde mithilfe von vermeintlich klaren und deutlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen größere Legitimität verschafft, obzwar diese Genauigkeit vorgaukelten respektive überhaupt auf erfundenen „Fakten“ beruhten.

Der Hang zum Bösen

Es folgte ein Referat von Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und Herausgeber etlicher Fachzeitschriften sowie Buchreihen zum „Leben mit der Gewalt“. Baberowski schilderte anhand des „Großen Terror“ der stalinistischen Gewaltherrschaft beispielhaft, inwieweit psychologische als auch politisch-gesellschaftliche Dynamiken Gewalt auslösen sowie befördern – und, was die Gewalt aus den Opfern macht. Ohne die Fähigkeit und den Willen zur Gewalt wäre der Mensch außerstande, die Hölle ins Werk zu setzen. Der Mensch habe einen „natürlichen Hang zum Bösen“, wie Immanuel Kant konstatierte. Gewalt gehöre zum Leben wie die Liebe, und es gebe keinen Grund, sich über ihre Allgegenwart zu wundern. Auch im Zweiten Weltkrieg waren es „ganz normale Männer“, die zu Mördern an Zivilisten wurden, weil der Gehorsam in einer militärischen Formation mehr zählte als Mitleid, weil die meisten Menschen lieber Täter als Nonkonformisten sein wollen, sagte der Gewaltforscher. Täter erniedrigen dabei nicht selten die Opfer, damit sie die Last der Schuld nicht spüren. Auf politischer Ebene hätten es die Tyrannen schon immer verstanden, die Angst der Verschreckten zu ihrer Waffe zu machen: „Die Angst vor Gewalt ist dann am größten, wenn sie schweigt und niemand weiß, wann sie wieder sprechen wird.“ Die Willkür ist also nur eine scheinbare und besitzt eine gezielte Wirkung. Laut Hannah Arendt gelinge es dem Terror, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht als Einzelne, sondern nur als einen gigantischen Menschen, als Selbstabrichtungsmaschine. Fortwährende Angst zerstöre die Persönlichkeit. Wer die Hölle gesehen und überlebt habe, könne an nichts anderes denken als an die Gewalt, die ihm angetan wurde. „Wir wollen die anderen überleben. So kann man auch selbst in die Versuchung kommen, Gewalt auszuüben.“ Und: „Es ist nur ein kleiner Schritt, der uns vom Abgrund trennt, und der Schlüssel, der die Pforten der Hölle öffnet, liegt stets bereit.“

Beziehungshöllen

Zwei weitere Vorträge standen dann im Zeichen jener höllischen Dynamiken, die auf dem Naheverhältnis von Menschen gründen. Zunächst referierte Adelheid Kastner, Leiterin der Klinik für Psychiatrie am Kepler Universitätsklinikum in Linz, die auch als Gutachterin in zahlreichen schweren kriminellen Fällen Bekanntheit erlangte. Der Schlusssatz aus dem Stück „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre „Die Hölle, das sind die anderen“ fungierte als Titel ihres Referats, in dem sie anhand zweier Fallbeispiele aus ihrer Praxis fatale psychische Prägungen und Entwicklungen aufzeigte, die zu schwerer Gewalt innerhalb von Beziehungen führten. „Ich komme aus der forensischen Psychiatrie, ich bin also sozusagen das, was man einen Experten für Höllen nennen könnte.“ Die Psychiaterin verwies auf Aspekte von Persönlichkeitsstörungen, wie sie im Grunde auch Sartre in seinem Stück anspricht: „Diese Leute sind wie tot, weil sie in der Wahrnehmung ihrer Probleme ihre Gewohnheiten nicht durchbrechen können. Und es gibt eine Menge Leute, die unterwegs in die Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil anderer abhängen.“ Kastner erklärte abschließend: Man könnte auch sagen: „Die Hölle, das sind wir einander. Die Hölle sind wir uns selbst. Oder wie T.S. Eliot sagte: Die Hölle, das sind wir selbst.“ Abgerundet wurde die Vortragsreihe von Barbara Bleisch, der Moderatorin der Sternstunde Philosophie SRF, Essayistin und Jurymitglied des Tractatus-Preises. Unter dem Titel „In der Familienhölle – Die Tücken der Blutsbande“ erörterte Bleisch, inwiefern höllische Momente innerhalb von Familien meist subtil seien. „Was macht ausgerechnet die existenziellste aller unserer Beziehungen so gefährdend?“, fragte sie – und identifizierte drei Momente des Höllischen. Erstens: Den Schuldgedanken. Väter und Mütter hätten von der Geburt ihrer Kinder an nur eine Aufgabe: Diese zur Selbstständigkeit zu erziehen und in ein eigenes Leben zu entlassen. Zweitens: Die Unentrinnbarkeit. So wiege das Scheitern in der Familie umso schwerer, als es offenbar keine Möglichkeit gebe, einen Schlussstrich zu ziehen. Und drittens: Die Unersetzbarkeit, „hinterlässt doch der Kontaktabbruch oder das Ableben eines Elternteils oder Kindes eine klaffende Lücke, eine Leerstelle, die – anders als hinsichtlich von Partnerschaften oder Freundschaften – nicht gefüllt werden kann“.

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