Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Der Bregenzer Patent Sessel

September 2021

Wie kam es, dass ein Gegenstand der Vorarlberger Alltagskultur derart in Vergessenheit geriet?

Der Bregenzer Stuhl – oder auch Bregenzer Patent Sessel genannt – war ein zentraler Bestandteil des Mobiliars vieler Gast- und Wohnhäuser des Rheintals im vergangenen Jahrhundert. Darunter zählen unter anderem der ehemalige bayrische Hof neben der Bregenzer Kaserne, das Heidelberger Fass und das Gasthaus Kinz in der Kirchstraße sowie die Gaststube des „Weißen Kreuz“ in der Römerstraße. Er findet sich auf historischen Aufnahmen von Brauereiarbeitern in Dornbirn, im Paznaun, und der Verkauf des Stuhls bis ins Tiroler Außerfern ist ebenfalls dokumentiert.
Meine Neugier wurde erstmals geweckt, als ich in einem Buch über das Bregenzer Weiherviertel den Patent Sessel und seinen geschichtlichen Hintergrund entdeckte. Daraufhin begann ich meine Spurensuche und befragte zahlreiche Freunde und Bekannte, ob sie etwas über den Verbleib dieses Relikts wussten: Vom Bregenzer Stadtarchiv, vom Vorarlberger Landesmuseum und auch vom Wiener Hofmobiliendepot erhielt ich ausschließlich negative Rückmeldungen. Niemand konnte sich an diesen Stuhl erinnern beziehungsweise keinem war bekannt, wo dieses historische Stück in Verwendung stand. Erfreulicherweise erhielt ich vom Wiener Patentamt eine Kopie des damaligen Schutzantrags.
Entwickelt und produziert wurde der Sessel im Bregenzer Weiherviertel von den Schreinern Josef Kempter und Gebhard junior Kempter. 1894 wurde durch die Patenturkunde vom k.&k. Privilegienarchiv die Herstellung geschützt. Das Besondere und Innovative an diesem Stuhl war nicht nur sein Zusammenbau, sondern auch die damals unübliche Mischung von Holz mit Elementen aus Eisenguss. Zur Jahrhundertwende setzte die Anfertigung eines einfachen Stuhls tischlermäßige Fachkenntnisse voraus: Das Fügen, das Zusammensetzen und Bearbeiten der verschiedenen Einzelteile mitsamt seinen materiellen Qualitäten führte – wenn dies gelungen und harmonisch umgesetzt werden konnte – zum vielbeachteten „Meisterstück“. Dabei musste der Tischler alle seine Kenntnisse und Fertigkeiten einsetzen, die er während seiner Ausbildung zur „Meisterschaft“ entwickelte.
Anders der Bregenzer Stuhl: Nachdem alle Verbindungen beim Patent Sessel gesteckt oder verschraubt ausgeführt worden sind, konnte der Zusammenbau auch von ungeübten oder angelernten Handwerkern erbracht werden. Damit nehmen die Kempters bereits die Möglichkeit zur Massen- bzw. Serienfertigung vorweg. Es sollte bis ins Jahr 1947 dauern, bis in Schweden ein gewisser Ingvar Kamprad auf dem Hof Elmtaryd im Dorf Agunnaryd auf die Idee kam, Möbel derart simpel miteinander zu verbinden, dass auch der unbedarfte Kunde in der Lage ist, das erworbene Mobiliar in Eigenregie zusammenzubauen. 
Wie eine konsequente Massenproduktion von Möbeln während der Monarchie aussah, konnte man ab den 1860er Jahren bei den Gebrüdern Thonet beobachten. Die Serienfertigung von überwiegend maschinell hergestellten Einzelteilen erfolgte an den mährischen Standorten in unmittelbarer Nähe zu den Buchenwäldern, welche als Rohstoffquelle unersetzlich waren. Langjährige Holzlieferverträge mit den Forstbesitzern waren ebenso Bestandteil der Unternehmensstrategie wie auch die Nutzung von billigen Arbeitskräften in der Region, die für den Zusammenbau und auch für das Flechten der Bespannung gebraucht wurden. 
Die Thonet Industrie versorgte damals weite Teile der Kronländer und war selbstverständlich auch das Konkurrenzprodukt zu unserem besprochenen Stuhl aus dem Weiherviertel. Zum Unterschied der eleganten Bugholzmöbel aus Mähren erwies sich jedoch das System Kempter als bedeutend robuster bei den damals üblichen Auseinandersetzungen in den Wirtschaften und beim Raufhandel. Eine Eigenschaft, die im bürgerlichen Caféhaus des alten Wien vielleicht weniger vonnöten war als in den Rheintaler Bierstuben. 
Im Heidelberger Fass in Bregenz hängt im hinteren Teil der Gaststube übrigens noch die Rechnung an den ehrenwerten Herrn Erich Vögel anno 1967, als zu den verabreichten zweiundzwanzig Zigeunerschnitzel auch noch das demolierte Mobiliar, das zerbrochene Fenster und ein Bregenzer Stuhl zu bezahlen waren.
Für die besondere Stabilität sorgten Eisengusszargen an der unteren Seite der Sitzfläche, welche jeweils die vorderen Stuhlbeine mit der Rückenlehne und der Sitzfläche verbanden. Diese Kombination stellte zur damaligen Zeit eine Neuheit dar. Zwar wurden schon seit jeher Eisenteile für Scharniere, Steckverbindungen und Schlosskästen verwendet, jedoch nicht bei konstruktiv beanspruchten Elementen. 
Aber nicht nur bei der Werkstoffwahl machte der Bregenzer Stuhl einen Spagat, sondern auch bei der Ergonomie der Sitzfläche – „Sessel fürs Wirtshaus sind flach, Caféhaussessel sind gewölbt!“ lehrte mich unlängst die Inhaberin des Wiener Café Weidinger am Lerchenfelder Gürtel. Und so verhält es sich auch mit dem Sitzkomfort. Mit der Verwendung von Brettern für die Sitzfläche verlangt der Patent Sessel dem Sitzfleisch einiges an Entgegenkommen ab, mit der Wölbung der Sitzfläche konnte jedoch die Ergonomie und somit auch der Komfort verbessert werden. 
Meine Geschichte über den Bregenzer Patent Sessel wäre an diesem Punkt nun eigentlich zu Ende erzählt, wenn nicht einige Zufälle und Begegnungen mich im Herbst des vergangenen Jahres den Lauteracher Simon Auer hätten kennenlernen lassen. Exakt ein Jahr vor meiner Entdeckungsreise begab sich jener Simon Auer auf die gleiche Spurensuche wie ich und tüftelte bereits an den ersten Prototypen für eine Neuauflage des Bregenzer Stuhls nach den historischen Vorlagen. Dem passionierten Handwerker gelang mittlerweile eine erstaunlich detailgetreue Rekonstruktion, er sorgte nebenbei auch für stimmige Ergänzungen zur Verbesserung der Bequemlichkeit. 
Letztendlich beweist dieser unternehmerische Neubeginn der Wiederauflage des „Bregenzer Patent Sessels“, dass qualitativ hochwertiges Handwerk langfristig nachgefragt und vermarktbar ist. Es besteht die Hoffnung, dass ein bemerkenswertes Mobiliar unserer historischen Alltagskultur wieder in die Gastronomie und unsere Wohnstuben – vor allem aber in unser Bewusstsein – einkehrt.

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