Johannes Lampert

Die temporären Kleider

Juni 2015

Das Leben ist ganz oft eine Perversion von sich selbst. Jeder Tag, an dem wir aufwachen dürfen, ist zugemüllt von diesen ganz alltäglichen Dingen. Wir diskutieren über unnötige Werbesendungen in der Post, machen uns Gedanken über die richtige Versicherung für unsere Autos, überlegen uns, ob wir unsere gebrauchten Kleider, die inzwischen leider out sind, der Caritas überlassen, sie dem kleinen Cousin schenken, der gar nicht mehr so klein ist, oder sie vielleicht online verhökern sollten. Dann würde sogar noch ein bisschen Kohle rausschauen. Eh cool. Ein bisschen Kohle für neue temporäre Kleidung. Ja, wir haben alle temporäre Kleidung. Das klingt beinahe schon wie eine chronische Krankheit. Ist es wahrscheinlich auch. Aber wer bin ich, so etwas festzustellen? Ich hab ja selber jeden Tag was anderes an. Egal, ob damit die Kleider an der Haut gemeint sind oder die Fassaden, die dastehen wie ein Brett vor meinem Kopf. Die besten Täuschungen probt man immer an sich selber.

Nun gut. Dann hör ich mal kurz mit der Eigentäuschung auf und schau in den Spiegel: Ich kaufe zu viel Zeug, ich rede zu viel, ich trinke viel zu motiviert und rauche blöderweise viel zu regelmäßig. Wahrscheinlich schreibe ich sogar zu viel und höre zu viel Musik. Und logischerweise arbeite ich zu viel und hab darüber hinaus natürlich viel zu viele Pläne für die nächste Zeit und mein ganzes Leben. Egal. Ich mach auf jeden Fall von allem irgendwie zu viel. Und ich denke wahrscheinlich auch zu viel darüber nach. Über das „zu viel“.

Ja. Das Leben ist ganz oft eine Perversion von sich selbst. Und das Ganze einfach deshalb, weil es zu viele Möglichkeiten bietet, von sich selbst abzulenken. Eigentlich sind es nicht unbedingt nur Möglichkeiten, sondern vor allem eben die alltäglichen Dinge. Wir wollen an all diesen Dingen die Welt verändern. Und blöderweise fallen wir dabei immer wieder zurück auf irgendwelche niedlichen Selbstzwecke, weil uns die Welt eh immer zu groß ist.

Tja. Echt witzig – dieses Leben als Perversion seiner selbst. Indem wir uns jeden Tag wieder diese temporären Kleider überziehen, werden wir total bedingt und voll entgeistert. Und paradoxerweise kritisieren wir dabei nicht das Ding, sondern den Geist. Deshalb ist das alles ja dermaßen pervers. Unsere Entgeisterung ist so abartig, weil wir den Unfassbarkeiten keine Beachtung mehr schenken. Wir vertrauen nicht, sondern stellen fest. Wir sind nicht radikal, sondern vernünftig. Wir kehren nicht um, sondern drücken aufs Gas. Wir vergeben nicht, wir urteilen. Im Kleinen wie im Großen. Die Ruhe, die uns stärken sollte, verursacht Stress. „Carpe diem“ ist zu einem Leitsatz unserer Kapitalgesellschaft verkommen: „Nutze den Tag, um Geld zu verdienen. Dann kannst du dir noch mehr Dinge kaufen.“ Wir sind eine Einbildung von uns selbst. Wir lieben nicht, wir verlangen. Wir tragen immer unsere Kleider. Wir sind nie nackt. Wir ertragen die Leere nicht, weil wir den Müll schon so gewohnt sind. Wir begreifen nicht, sondern erklären nur. Wir haben keine Einsicht, nur unser Ausschauen.

Entschuldigt diesen Ausbruch, aber Reflexion ist ein seltsames Spiel.

Um wieder die Kurve zu kriegen: In einem Teil der Restposten der Bibel, den Apokryphen, sind wir Vorübergehende. Das trifft mehrere Nerven gleichzeitig: Wir können feststellen, dass wir, gefangen hinter unseren Fassaden, hinter all dem Müll, am Leben vorübergehen. Und wir könnten merken, dass ein großer Teil von dem, was wir uns einbilden zu sein, tatsächlich vorübergehend ist. Temporär sozusagen. Genauso wie unsere Kleider. Vielleicht sind wir alle ganz anders, als zu sein wir uns einbilden. Vielleicht haben wir nur vor lauter Dingen zu wenig Zeit dazu.

Was also ist nicht vorübergehend, wenn wir ja wissen, dass all die Dinge und Fassaden es sind?

Was ist stetig? Es gibt dazu nur eine Antwort: Wir wissen es nicht! Und es gibt dazu nur eine weitere Frage: Sind wir bedingt oder sind wir begeistert?

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