Ingrid Wopmann

* in Oberösterreich, Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Wien, Mag. phil., 36 Jahre Unterrichtstätigkeit an AHS und BHS. Von 1991 bis 1994 Bereichsleiterin (Bregenz) für Literatur des Internationalen Bodenseeklubs. Jüngst erschienen: „Die Last des Geldes und das Glück der Bescheidenheit“.

„Heimgekehrt“

Dezember 2023

Zur Übernahme des Vorlasses von Theaterregisseur, Geiger und Doktor der Philosophie Alfred Wopmann, *1936 in Wels, des Intendanten der Bregenzer Festspiele von 1983 bis 2003, durch die Musiksammlung des Franz-Michael-Felder-Archivs (Vorarlberger Landesbibliothek).

Journale, Bücher, diverse Tonträger, handschriftliche Notizen zu Philosophie und Musik, Konzepte für Vorträge, Essays für Fachzeitschriften, Thesen zur „Bregenzer Dramaturgie“ und zehn Ordner mit detaillierten Berichten über Dienstreisen werden nun von Fachleuten archiviert, erschlossen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 

Diese zehn Ordner verdanken ihre Existenz der Skepsis des österreichischen Rechnungshofes, der mit Argusaugen jeden Kilometer, den Alfred Wopmann auf der Jagd nach festspieltauglichen Künstlerinnen und Künstlern zurücklegen musste, verfolgte. Hatte man doch seinem Vorgänger vorgeworfen, sich nicht nur von seiner Gattin, sondern auch von seinem Hund auf Dienstreisen begleiten zu lassen. Wopmann achtete penibel darauf, nicht in den Verdacht von Vergnügungsreisen zu kommen, und absolvierte mitunter vier Städte in drei Tagen. Und er scheute auch keine Provinz, wenn er auf der Suche nach einem bislang ungeschliffenen Edelstein war. Manchmal erwies sich jedoch der auf Reisen Entdeckte auf der Bregenzer Bühne als stimmloser Blindgänger, obwohl er in New Orleans noch wie ein Gott gesungen hatte. Die den Dienstreisen folgenden Wochenenden dienten deren Niederschrift. Eine aufwendige Arbeit, die gerade noch eine Wanderung in Möggers oder auf der Fluh zuließ.
Nie hätte Wopmann gedacht, dass diese Aufzeichnungen, statt im Papiermüll zu landen, eine würdige Heimstätte in einem Archiv finden würden, das den Namen eines großen Vorarlbergers trägt: Franz-Michael-Felder.
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit sich der Verfasser dieser Reiseberichte, der Urheber dieses Vorlasses von der Intendanz der Bregenzer Festspiele verabschiedet hat. Viel Wasser ist seither den Rhein hinuntergeflossen und die digitale Welt von heute hat sich von der analogen Welt von gestern in gewaltigen Schritten entfernt. Umso erstaunlicher ist es, dass es die von Wopmann entwickelte „Bregenzer Dramaturgie“ bis heute geschafft hat, das künstlerische Fundament dieses inzwischen international bekannten und geschätzten Festivals zu bleiben.
1983. Der Anfang war steinig. Die Festspiele waren wegen verschwenderischen Umgangs mit Steuergeldern massiv in die Kritik des Rechnungshofes geraten, der lokalen Avantgarde wurde von den Festspielgranden arrogant die kalte Schulter gezeigt und die bösartige Bezeichnung „Mörbisch des Westens“ drohte das 1946 mit bewundernswertem Mut gegründete Festival in die künstlerische Bedeutungslosigkeit zu katapultieren. Da half es auch nichts, einen bekannten Burgschauspieler mit einer astronomischen Gage nach Bregenz zu locken und den im Dreck steckenden Karren durch das Engagement von ein paar Weltstars wieder flott machen zu wollen.
Ein neuer, radikaler Anfang war unumgänglich. Als Festspieldirektor war der Neue ein „Lehrbub“ (Ernst Bär), aber er war Musiker (Geiger) und hatte mit 60 Opernproduktionen weltweit viel Erfahrung gesammelt. Darunter auch in der antiken Arena von Orange, wo er 1981 mit der Inszenierung von Mozarts „Zauberflöte“ 10.000 Besucherinnen und Besucher begeistern konnte. Was lag daher näher, als dieses Werk, die „Oper aller Opern“, trotz der anfänglichen Skepsis des Präsidenten („Wenn Sie das machen, können wir gleich den Hut nehmen.“) auf der Seebühne aufzuführen. In einer neuen, überhöhten Ästhetik, die sich allen Schichten der Bevölkerung, unabhängig von Herkunft, Alter und Bildung öffnen sollte.
Es war ein riskantes Unternehmen, das nur durch die Vernetzung von künstlerischer Kreativität (Wopmann), kaufmännischer Qualität (Franz Salzmann) und innovativer Ingenieurs­kunst (Gerd Alfons) unter Nutzung des Sees als „Genius loci“ zu bewältigen war. Und bewältigt wurde. Nicht zuletzt durch die Risikobereitschaft und den unternehmerischen Mut des Präsidenten Günter Rhomberg. Denn mit der „Zauberflöte“ gelang der immense Sprung von der elitären Oper für „Eingeweihte“ zum Musiktheatererlebnis für alle. Massenkultur mit Hochkulturanspruch, ein Schritt in Richtung Demokratisierung der Oper.
In den folgenden Jahren wurden die Bregenzer Festspiele zum multikulturellen Unternehmen mit Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt, die aber erst gefunden werden mussten, was dem Intendanten zahllose Entdeckungsreisen abverlangte. Von Hohenems (G. F. Haas) über Berlin, Paris, London bis Buenos Aires (A. Piazzola). Nicht weniger wichtig war die regionale Verankerung, die mit der von Jérôme Savary inszenierten „Zauberflöte“ durch das Engagement des Bregenzer Festspielchores und der drei Bregenzer Knaben beispielhaft gelang. Der Erfolg bei Publikum und Presse war so gewaltig, dass man sich zur Wiederholung im Folgejahr entschloss, was sich auch wirtschaftlich als sinnvoll erwies. Damit wurde der Zwei-Jahres-Rhythmus, der sich bis heute gehalten hat, etabliert.
Wer jedoch glaubt, damit wäre von heute auf morgen die „Bregenzer Dramaturgie“ erfunden gewesen, der irrt. Lediglich die erste Säule der neu konzipierten Festspielarchitektur war fest und unverrückbar im Seeboden verankert worden. Und das bedeutete für die Zukunft: bekannte Oper mit höchstem künstlerischem Anspruch. In den folgenden Festspielsommern wurde dem Seepublikum alles an Populärem geboten, was auch die Besucherinnen und Besucher großer Opernhäuser zu sehen und zu hören bekommen. Allerdings in mehr als reflexionsfreier Kulinarik. Der Entertainmentfaktor wurde durch neue, gewagte Interpretationen und symbolhafte Visualisierungen konterkariert. Man nahm in Kauf, dass das Publikum, im „Fliegenden Holländer“ auf das traditionelle Schiff wartend, von einem schwarzen Haus, einem Seelengefängnis irritiert, in „Nabucco“ vom Gefangenenchor bei strömendem Regen erschüttert und im „Fidelio“ von einem strahlend weiß erleuchteten Kerker verunsichert wurde. Die herausfordernde Bühnenästhetik begleitete nun die Seeaufführungen und machte angesichts des überdimensionalen Todes im „Maskenball“ die Anwesenden vor Staunen stumm.
Die Verankerung der zweiten Säule der „Bregenzer Dramaturgie“ im Bühnenboden des Festspielhauses erfolgte über den kurzen Umweg der „Belcanto“-Oper. Aber man verabschiedete sich bald von Koloraturen, schmetternden Diven und eitlen Startenören und beschritt einen neuen Weg mit Raritäten, die im krassen Kontrast zu den populären Opern auf der Seebühne standen. Mit diesem riskanten Antagonismus drehte man die zweite Säule der „Bregenzer Dramaturgie“ in jene Richtung, die sie auch in den Folgejahren beibehielt. Damit begann das Suchen und Aufspüren von zu Unrecht vergessenen und vernachlässigten Werken. Vor allem von Raritäten, in denen der Intendant einen Bezug zu Gegenwartsproblemen und -themen fand. Den Auftakt machte 1988 „Samson und Dalila“, eine Oper, welche die Antisemitismusproblematik thematisiert, die der Welt gegenwärtig wieder ihre hässliche Fratze zeigt. Es folgte die Sichtbarmachung der noch immer nicht gelösten Frauenfrage mit „La Wally“ und die Nationalitätenfrage in „Mazeppa“ am Vorabend des Zusammenbruches des kommunistischen Sowjetimperiums. Man programmierte also am Puls der Zeit, was mit der von Aleš Bˇrezina rekonstruierten Urfassung der „Griechischen Passion“ schicksalshaft gelang. Denn mit den Gräueln des Bosnienkrieges in unmittelbarer Nachbarschaft wurde das Publikum von Bohuslav Martin˚us Flüchtlingsoper zutiefst erschüttert. Diese konsequente Raritätenpflege wurde bis zum Ende der Ära Wopmann durchgehalten und im Jahre seines Abschieds 2003 mit dem „Schlauen Füchslein“, der Metapher vom ewigen Kreislauf des Lebens, zu einem poesievollen Ende gebracht.
Die Pflege des zeitgenössischen Musiktheaters fand als dritte Säule der „Bregenzer Dramaturgie“ auf der neuen Werkstattbühne, einem flexiblen Spielort, der auch für Ur- und Erstaufführungen im Bereich Schauspiel und Tanz genutzt wurde, statt. Sie wurde 1998 mit der szenischen Uraufführung der Kammer­oper „Nacht“ von Georg Friedrich Haas eröffnet. Die sensiblen Geigerohren des Intendanten hatten sich von dessen reibender, schwingender, schwebender, mikrotonaler Tonsprache zu einem Kompositionsauftrag verführen lassen. Die das Schicksal Hölderlins vor dem Zusammenbruch der Utopie der französischen Revolution thematisierende Oper wurde ein großer Erfolg. Und die Bregenzer Festspiele zum Sprungbrett für einen – wie Haas damals selbst sagte – „in der Öffentlichkeit praktisch unbekannten Komponisten“. Heute werden die Kompositionen von Haas zusammen mit dem Werk Anton Bruckners aufgeführt, was er selbst als „Wunder“ bezeichnet. Wenn die mikrotonale Musik von Haas jedoch nicht die Qualität hätte, für die er heute weltweit gerühmt wird, hätten auch die Texte zu seinen Opern „Melancholia“ sowie „Morgen und Abend“ des Literaturnobelpreisträgers Jon Fosse nichts bewirkt.
Im Jahr 2003, dem Abschiedsjahr Wopmanns, wurde „Die schöne Wunde“, die zweite Auftragsoper an Haas, auf der Werkstattbühne uraufgeführt. Mit diesem Ereignis konnte die „Bregenzer Dramaturgie“ als Trias von drei extrem kontrastierenden Aufführungsorten und unterschiedlichsten Programminhalten als „Gesamtkunstwerk“ (Opernwelt) vollendet werden.

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