Andreas Rudigier

Direktor Vorarlberg Museum

(Foto: © Darko Todorovic)

Fragen über Fragen

Mai 2015

Es war nur ein kurzer Augenblick, eigentlich keine Zeit zum Innehalten, und doch ging mir dieses eine Wort und der damit verbundene Wunsch nicht nur an jenem Tag immer wieder durch den Kopf. Der ORF begab sich anlässlich der Konstituierung des neuen Vorarlberger Landtags auf die Straße und fragte das Volk, was es sich denn so von der neuen Regierung wünsche. „Moral“, war der so einfache wie kurze Kommentar einer älteren Dame. Ihre überaus freundliche Art zeigte, dass sie es eigentlich ehrlich meinte, die unsichere Gestik wiederum ließ ihren Zweifel daran erkennen, ob dieser Wunsch im Hinblick auf die vermutete Unerfüllbarkeit überhaupt Sinn macht. Hat Moral nicht etwas mit guten Sitten zu tun? Welches Handeln erwarten Menschen von Menschen in bestimmten Situationen? Von Politikern? „Ich weiß, sie tranken heimlich Wein. Und predigten öffentlich Wasser“, wusste schon Heinrich Heine Mitte des 19. Jahrhunderts zu zitieren. Ist es das, was wir annehmen? Gedanken splittern durch meinen Kopf. Die Landtagspräsidentin wird in die zweite Reihe versetzt. Ein Verstoß gegen die guten Sitten? Ein Beweis für die nicht vorhandene Moral? Die Opposition stört die Feierlichkeit der konstituierenden Sitzung. Ein Verstoß …? Es heißt doch, Umweltschutz fängt im Kleinen, im Privaten an. Ist es bei der Moral nicht auch so? Sitzen wir nicht alle im sprichwörtlichen Glashaus – jene interviewte Frau möchte ich an dieser Stelle jedenfalls ausnehmen – und sollten uns vor dem Werfen von Steinen hüten? Wir hören von der Politik als Spiegelbild der Gesellschaft, und sind nicht öffentlich moralisierende Kommentatoren überhaupt die Allerschlimmsten? Als ich nach dem Ende der feierlichen Konstituierung des Landtags beim Buffet stand, dachte ich noch einmal kurz an jene Frau und an Bertolt Brecht und stellte durchaus selbstzufrieden fest: Heute kam die Moral ausnahmsweise vor dem Fressen!