Ingrid Hofer

Autorin, Singer-Songwriterin

Major Tom

Mai 2020

In warmen Sommernächten sitze ich draußen auf der Terrasse und warte auf ihre Ankunft. Wie ein heller Stern taucht sie plötzlich am Firmament auf und gleitet auf unsichtbaren Schienen im Orbit. Lautlos zieht sie ihre Bahn über den sternenübersäten Nachthimmel und leuchtet dabei am hellsten von allen. Kein Blinken, nur dieser kleine strahlende Punkt in seiner Bahn. Ohne Abweichung, ohne Aussicht auf ein Ankommen und trotzdem immer dem Ziel entgegen.
Seit 22 Jahren kreist sie täglich 16-mal um die Erde, seit 20 Jahren in Begleitung von zwei bis sechs Menschen. Manchmal sogar neun. Klingt nach Weltraum-Party! Die Handy-App kennt ihren Weg. Vorgestern tauchte sie über London auf, gestern über Paris. 20:59 Uhr. Meine Augen suchen den winzigen Punkt. Da ist sie. 408 Kilometer über dem Erdboden. Paris scheint zum Greifen nah. Ich bleibe bei ihr, bin aufs Neue fasziniert, denke an die Menschen da oben. Was sie wohl gerade erforschen? Was gab es zum Abendessen? Feiern sie Ostern? Wird denen nie schlecht?
Ich schaue ihm nach, dem kleinen, leuchtenden Punkt, bis er über Split verschwindet. Split! Liegt das wirklich in dieser Richtung? Ich denke an den Kroatienurlaub vor zehn Jahren, an das kristallklare Meerwasser, gegrillte Krustentiere im kleinen Fischerlokal. Den Duft des frisch gebackenen Brotes von damals in der Nase, denke ich wieder an den leuchtenden Punkt. Er ist verschwunden. Taucht in eineinhalb Stunden aber zuverlässig wieder auf, um mich erneut zu faszinieren.
Der Sommer ist noch fern, aber die Aprilabende können seit neuestem einiges. Meine Handy-App sagt mir, wann sie wiederkommt. „Sorry, there are no visible passes in the next 10 days.“ Ich warte auf sie. Die ISS. Der momentan sicherste Ort. Völlig losgelöst von der Erde.