Daniela Egger

Noten als Motivations­bremse

März 2019

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein engagierter Mensch mit innovativen Ideen, Sie sind eine der Zugkräfte für die Weiterentwicklung Ihres Bereichs. Das bedeutet, Sie starten Projekte, die manchmal nicht gleich vom Fleck kommen, die aber ein großes Potential besitzen. Sie wollen, dass Ihr Unternehmen zu den Gewinnern gehört und Sie sind selbst eine oder einer davon.

Neuerdings hat aber die Regierung Ihres Landes beschlossen, sich in die Unternehmenspolitik einzumischen und Ziffernnoten statt Mitarbeitergespräche anzuordnen. Sie erhalten also kurz vor Ihrem Sommerurlaub ein Zeugnis mit Noten anstatt des jährlichen Gesprächs. Diese Ziffer beschäftigt Sie, während Sie am Strand liegen. Sie haben hart gearbeitet und viel geleistet, fast alles ist gelungen, manches nicht – und Sie wissen sehr genau, warum eines der Projekte nicht funktioniert hat. Im Jahr davor haben Sie sich mit Ihrem Vorgesetzten darüber ausgetauscht, welche Maßnahmen man allgemein ergreifen könnte, Sie haben von ihm gehört, dass er Ihre Anstrengung gesehen hat und dass er Ihren Wert kennt.

Diesmal haben Sie eine DREI erhalten, kein Gespräch. Ihr Vorgesetzter wird demnächst in Pension gehen, sein Nachfolger wird sich die Unterlagen ansehen und die DREI zur Kenntnis nehmen. Sie wissen gleichzeitig, dass der Kollege nebenan, der nie im Leben etwas Innovatives entwickeln wird, eine EINS bekam. Er hat ja auch nichts riskiert. Der Nachfolger ihres Vorgesetzten wird die beiden Noten vergleichen, und Ihr Sommer­urlaub wird immer mehr zu einem Strategieworkshop. Sie werden eventuell auf der Strandliege beschließen, im nächsten Jahr lieber kein Risiko mehr einzugehen und es Ihrem Kollegen gleichzutun – schließlich möchten Sie Ihren Job behalten. Vorerst.

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