Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Altes Wunschbild, neue Formen

April 2021

Wohnen in Vorarlberg, Aspekte eines zentralen Themas: Vom Wunsch nach dem eigenen Haus, dem Ruf nach einem neuen Gremium und von Wohnbedürfnissen, die sich in der Pandemie geändert haben.

Ein Jahr Pandemie ist auch ein Jahr verordneter Rückzug in die eigene Wohnung, ein Rückzug, der neue Anforderungen an das Wohnen stellt. Wohnen sei jetzt wichtiger denn je, hieß es vor kurzem im „Standard“, habe sich das Leben vieler Menschen durch Corona doch auf ein paar Quadratmeter Wohnfläche reduziert, „auf denen sie wohnen, arbeiten und ihre Kinder betreuen.“ Und glaubt man Experten, hat die Pandemie Wohnbedürfnisse stärker in den Fokus gerückt, Umfragen zufolge fließt derzeit viel Geld in die eigene Wohnung und das eigene Haus, viele bauen derzeit um, sanieren, richten sich neu ein. 
Corona, urteilte die „Furche“ trocken, lasse „das ‚Cocooning‘, wie der biedermeierliche Rückzug ins Private neumodisch genannt wird“, wieder aufleben. Von der US-Trendforscherin Faith Popcorn – die Dame nennt sich wirklich so – Ende der 1980er Jahre erstmals als Begriff verwendet, bezeichnet dieses „Cocooning“ die Tendenz, sich vermehrt aus der Öffentlichkeit in das häusliche Privatleben zurückzuziehen, es sich dort mit der entsprechenden Einrichtung bequem zu machen und die Welt sozusagen auszusperren. 
Doch hat die Zeit der Pandemie über diesen Trend des Cocoonings hinaus auch eine neue Definition von Wohnbedürfnissen in Vorarlberg gebracht?
Laut Günther Ammann, dem Fachgruppenobmann der Immobilien- und Vermögenstreuhänder in der Kammer, ist die Immobilienbranche in Vorarlberg von Corona nur wenig tangiert worden, bis auf jene Wochen im März 2020, als der erste Lockdown verhängt worden war und branchenübergreifend ein Stillstand im ganzen Land stattgefunden hatte. Zwar seien manche Menschen nach wie vor verunsichert, hätten Ängste in Bezug auf die weitere Entwicklung, allerdings herrsche im Land nach wie vor eine große Nachfrage nach Immobilien. So bleibt auch die Nachfrage nach Einfamilienhäusern hoch, „sobald eines zu einem erschwinglichen Preis auf den Markt kommt, ist es weg“, berichtet Ammann. Und aus einer subjektiven Einschätzung heraus könne er auch sagen, dass „die Nachfrage vor allem von jungen Personengruppen nach Wohnungen derzeit hoch“ sei, unverändert nachgefragt seien auch kleinere Wohnungen, geschuldet der Tatsache, dass die Haushalte immer kleiner werden.

„Biedermeier und Bauboom“

Hat Corona keinen Einbruch gebracht? „Nein, ganz im Gegenteil“, berichtet die Architektin Julia Kick. „Wir erleben zwar ein neues Biedermeier, wir erleben aber auch einen unglaublichen Bauboom“, sagt Kick, „viele versuchen derzeit, Wohnen für sich neu zu definieren.“ Deutlich sei zu beobachten, dass sich heute viele Menschen im Land überlegen würden, wie man wohnen wolle und was in dieser Hinsicht zu ändern sei; man sei bereit, in der Pandemie angespartes Geld in sein Haus oder seine Wohnung zu investieren. Kick spricht von einer „höchst eigenartigen, geradezu verrückten Zeit“. Sie bekomme Anrufe von Handwerkern, denen das Material ausgehe, weil die Nachfrage in Vorarlberg im Moment derart hoch sei: „Ich bin seit zehn Jahren in diesem Geschäft, ich habe in einem Boom angefangen, es hat damals schon geheißen, dass das nicht ewig so weitergehen kann und doch hält dieser Boom an.“

Einstige Schicksalsgemeinschaften

Blicken wir an dieser Stelle ein wenig zurück auf die Geschichte des Einfamilienhauses? Wie Verena Konrad, die Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts, erklärt, war das Einfamilienhaus ein Privileg, das lange Zeit nur sehr wenigen Menschen vorbehalten blieb. 
Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein lebten die Vorarlberger in Mehrfamilienhäusern, nicht in Freiwilligkeit, sondern vielfach in Schicksals- und Zwangsgemeinschaften. Der Familienverbund war das Entscheidende, das familiäre Kollektiv stand weit über dem Individuum.
Zwar bot diese familiäre Gemeinschaft mitunter jenen Zusammenhalt, den heute viele schmerzlich vermissen; allerdings war es für den Einzelnen, eingebettet in eine Großfamilie, in einer konservativen, patriarchal geprägten Gesellschaft schwer bis unmöglich, einen eigenen Lebensweg zu beschreiten. Dass das Mehrfamilienhaus als Wohnform maßgebend war, hatte auch mit den landwirtschaftlichen Strukturen des Landes zu tun, mit der Arbeitsteilung und den Formen der Arbeit, die Wohnen seit jeher wesentlich geprägt haben. 

Seht her, ich habe es geschafft!

Erst nach den beiden Weltkriegen – Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre – beginnt sich das Bild zu ändern. Zurückzuführen auch auf den immer stärker werdenden Wunsch nach individueller Unabhängigkeit, erfährt das Einfamilienhaus in Vorarlberg seinen Boom, mehr und mehr Menschen wollen ein selbstbestimmtes Leben führen und nicht mehr vom Familienpatriarchen abhängig sein. Die neue Lebens- und Wohnform ist aber auch Ausdruck der steigenden Wohlstandsentwicklung. „Das Einfamilienhaus ist eine Nachkriegserscheinung“, sagt Konrad, „man erholt sich, man versucht, sich wieder neu aufzustellen.“ Der Häuslebauer will den anderen zeigen: „Seht her, ich habe es geschafft.“ 

Was vererbt wird

Auch heutige Wunschbilder, die das Wohnen betreffen, sind in diese Entwicklungen eingebettet. „Es ist bemerkenswert, dass sich das Einfamilienhaus in einer so kurzen Zeit so stark in der Gesellschaft als kollektives Wunschbild festgesetzt hat“, sagt Konrad. Im kollektiven Empfinden der Menschen gibt das Einfamilienhaus auch heute noch Sicherheit, es ist unverändert Dokumentation des eigenen Wohlstandes und Ausdruck der eigenen Unabhängigkeit; es ist – trotz jüngerer Entstehungsgeschichte – zur Tradition im Land geworden. „Und die einen vererben ihre Häuser weiter, die anderen vererben ihren noch nicht erfüllten Wunsch, ein eigenes Haus zu haben“, sagt Konrad, „all das macht diese Dominanz, dieses Wunschbild des Einfamilienhauses letztlich aus.“ 

Der Abschied

Doch die Entwicklung, die über Jahrzehnte anhielt, ist ins Stocken geraten. Angesichts der wirtschaftlichen Situation und der auch auf die Verknappung des Bodens zurückzuführenden massiven Verteuerung müssen sich viele Menschen von diesem Wunschbild, ein eigenes Haus zu haben, verabschieden, „in einem durchaus schmerzhaften Prozess“, wie Konrad sagt. Den Menschen müsse man daher verstärkt bewusstmachen, dass sich der Wunsch nach Unabhängigkeit und nach Freiraum auch mit anderen Wohnformen verwirklichen lasse. „Denn der Wille, ein selbstbestimmtes Leben führen und Wohlstand aufbauen zu können, ist keineswegs an ein Einfamilienhaus geknüpft“, erklärt Konrad. Es gebe viele andere Möglichkeiten, die in Vorarlberg allerdings kaum existent, kaum sichtbar seien.
Andere Möglichkeiten? Architektin Kick, die Neubauprojekte plant, vielfach aber alten Häusern und Gebäuden neues Leben und neuen Charme verleiht, sieht – zumindest in dem Bereich, den sie überblicken könne – den Trend zum Einfamilienhaus bereits unterbrochen. Denn die Bauherren, die zu ihr kämen, würden oft den Wunsch äußern, im zu sanierenden Gebäude mehrere Einheiten unterzubringen: „Kann man das so sanieren, dass es sich später teilen lässt? Kann man Reserven lassen für spätere Wohneinheiten? So lauten häufig gestellte Fragen.“ Auch ihre beiden aktuellen Neubauprojekte sind private Dreiparteien-Häuser. 

Schaffa, schaffa, Hüsle baua?

Und doch ist der Spruch „Schaffa, schaffa, Hüsle baua“ tief in der Vorarl­berger Identität verankert. Zu tief? Konrad antwortet: „Man glaubt zwar immer, dass in Vorarlberg die meisten Einfamilienhäuser stehen, aber das ist nicht so.“ Historiker Alois Niederstätter weist in dem Sammelwerk „Vorarlberg kompakt“ darauf hin, dass das Eigenheim in Vorarlberg zwar als der höchste aller Werte gelte, für den zur Not fast alles geopfert werde („Katz verkoufa, sealber musa“), und die Vorarlberger sich selbst als die Häuslebauer schlechthin sehen, die Statistik aber eine andere Sprache spreche. Demnach sind nur 69 Prozent der etwa 89.000 Wohngebäude im Land Einfamilienhäuser, während das Burgenland (88 Prozent), Niederösterreich (82), die Steiermark (77) und Kärnten (72) in dieser Hinsicht teilweise weit vor Vorarlberg liegen. 

Gestiegene Bedürfnisse

Warum ist heute nicht mehr möglich, was in den 1950ern offenbar noch möglich war, dass sich jeder mit harter Arbeit ein Haus hatte bauen können? Konrad sagt: „Mit den früheren Ansprüchen, was Raum, Ausstattung und das Leben an sich betrifft, wäre heute nach wie vor sehr viel möglich. Aber das geht am Wunschbild vieler Menschen vorbei, unsere Ansprüche sind immens gewachsen.“ Die 1950er Jahre seien von einer Verzichtsmentalität geprägt gewesen, „die Menschen nahmen Entbehrungen auf sich, um sich ein Haus leisten zu können.“ Markus Hagen, der Präsident der Vorarlberger Eigentümervereinigung, schließt da an. Auch Hagen sagt, dass sich einstige und heutige Bedürfnisse nicht mehr vergleichen ließen. Daten der Statistik Austria zeigen, dass die Menschen heute im Durchschnitt beinahe doppelt so viel Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung haben wie in früheren Zeiten, laut Hagen „lag die Fläche, die früher auf eine Person gefallen ist, bei 14 Quadratmetern, jetzt liegt sie bei 30 Quadratmetern und darüber.“
Und: Während Häuslebauer früher oftmals in noch nicht fertige Häuser gezogen seien und erst nach und nach Räume ausgebaut hätten, weil man das nötige Geld erst hatte verdienen müssen, will die breite Masse heute bereits beim Einzug alles schlüsselfertig und von höchstem Niveau haben. Der Rechtsanwalt sagt: „Früher hat man gewohnt, heute müssen die Wohnung oder das Haus eine Komfortzone sein.“ 

Hausgemacht

Diese gestiegenen Bedürfnisse aber führen mit zu einer Verteuerung des Wohnens, nebst anderen Faktoren, die Hagen „zu einem Gutteil hausgemacht“ nennt. Beispiele? „Die Immobilienertragssteuer hat 2012 quasi über Nacht zu einer Preisexplosion von 15 bis 20 Prozent bei den Immobilien geführt, weil jeder Verkäufer aus nachvollziehbaren Gründen die Steigerung an den Käufer weitergibt.“ Daneben hätten auch das Baugesetz, die OIB-Richtlinien, die Ökologisierung des Wohnbaus, eine fehlgeleitete Wohnbauförderung und anderes zu dieser in Summe deutlichen Verteuerung geführt. Hagen ärgert das: „Fehler in diesem Bereich sind nicht oder nur kaum wiedergutzumachen, hohe Preise bleiben hoch.“ 
Eigenes Gremium gefordert
Um solche Fehler bereits im Vorfeld zu verhindern, fordert Hagen seit Jahren eine Professionalisierung der Wohnpolitik. Wichtigster Schritt wäre die dauerhafte Einrichtung einer fachlich besetzten Koordinations- und Kompetenzplattform unter Einbeziehung des Landes, er will einen stärkeren sachpolitischen Fokus auf das Thema Wohnen gesetzt wissen: „Es gibt keine Evaluierung, keine Koordinierung, man schaut nicht, ob steuernde Maßnahmen tatsächlich zielführend sind.“ Dabei könnte eine gemeinsame Organisationsebene unter Einbindung aller Protagonisten, eine thematische Zusammenführung aller relevanten Bereiche zu einer „Gewinnsituation für alle Beteiligten führen, für das Land, Vermieter und Mieter, Baubranche, Eigentümer und Raumplanung“. 
Eigentum sei ein guter, ein nachhaltiger Wert, der der Gesellschaft eine Stütze und ein Fundament bieten könne, auch da könne dieses zu schaffende Gremium einen Fokus setzen, einen Kontrapunkt zur gesellschaftlichen Entwicklung.
Denn in einem Land, in dem einer Schätzung zufolge noch 60 Prozent im Eigentum und 40 Prozent in Miete wohnen, gehe der Trend „weg vom Eigentum, hin zur Miete“ – und dieser Entwicklung gelte es entgegenzuwirken, sagt Hagen. 
Einen maßgeblichen Preistreiber sieht Günther Ammann neben den derzeit massiven Baukostenerhöhungen übrigens auch in der Rubrik „Grund und Boden“ in den „Vorarlberger Nachrichten“. Vergleiche man die Grundstückspreise vor Einführung besagter Rubrik mit jenen nach der Einführung, sehe man die massive Erhöhung: „Ab dem Tag, ab dem das publiziert wird, verkauft man in der betreffenden Gegend kein Grundstück mehr unter diesem Preis, meistens will der Verkäufer sogar noch mehr haben.“ 

Eine Öffnung, eine Debatte

Architektin Julia Kick sagt, dass an Eigentum mehr Herzblut hänge. Aber den Trend, von dem Hagen spricht – weniger Eigentum, mehr Miete – den sieht sie nicht, zumindest in ihrem Bereich nicht. Sie sieht da, ganz im Gegenteil, gesteigertes Interesse, zu investieren, neues Eigentum zu schaffen oder Bestehendes zu sanieren. Glaubt die Architektin eigentlich, dass das eingangs erwähnte Cocooning sich festsetzt, auch über die Pandemie hinaus? Kick winkt ab.
Sie halte das lediglich für einen kurzfristigen Trend, der auf längere Sicht kaum Auswirkungen haben werde, im Übrigen gebe es mit dem massiv gestiegenen Home-Office auch eine Gegenbewegung: „Das hat einen öffnenden Charakter, Arbeiten und Leben werden wieder stärker vermischt, wie das in früheren Zeiten ja auch der Fall gewesen ist. Das hat Potenzial, es kann einen vernetzenden Effekt haben.“
Nun hat die Pandemie 1,5 Millionen Menschen in Österreich praktisch über Nacht ins Homeoffice wechseln lassen, zwei Drittel davon zum ersten Mal – und das mit 90 Prozent Zustimmung zur Zufriedenheit sehr vieler, wie aus einer aktuellen OGM-Studie im Auftrag des Arbeitsministeriums hervorgeht. Aber Verena Konrad sieht den Trend trotzdem mit wachsender Skepsis. Sie wolle Homeoffice in der aktuellen Notwendigkeit überhaupt nicht kritisieren, sagt die VAI-Direktorin: „Homeoffice hat aber die Tendenz, eine neue Ausbeutungsstruktur zu schaffen, und das in der Diskussion zu ignorieren, halte ich für sehr fahrlässig.“ Doch ist es nicht nur die Absicht, Verantwortung für betriebliche Organisation ins Private zu verschieben, auf die Konrad verweist, es ist auch die damit verbundene Parallelität von Arbeiten und Leben, die sie sorgt, ganz abgesehen von der Tatsache, dass zur Arbeit zu gehen auch ein Akt des Sozialen ist. Der Mensch, sagt Konrad, braucht Privatsphäre. Wohnen bedeute, dass der Mensch einen Ort hat, an dem er privat sein kann, „die wachsende Öffentlichkeit der heutigen Zeit braucht das Pendant des Privaten.“
Apropos Wohnen, apropos Raum. Es wird in den Folgejahren vieles auf Vorarlberg zukommen, auch an Einfamilienhäusern, die im Boom vergangener Jahrzehnte erbaut, künftig vererbt werden oder bereits ererbt sind. Und die, angepasst an neue Befindlichkeiten, saniert werden müssen. „Da wird viel anstehen“, sagt Julia Kick, „das ist ein Erbe, das unserer Generation von Architekten und Planern übergeben worden ist.“

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