Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

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Eine Scheidung mit Hindernissen

Oktober 2018

Am 30. März 2019 tritt Großbritannien aus der Europäischen Union aus – in welcher Form, ob mit oder ohne Deal, geregelt oder ungeregelt, ist nach wie vor offen. Auf Einladung der Initiative
„Wir sind Europa“ gaben nun mit Christian Kesberg und Gregor Schusterschitz zwei ausgewiesene Experten einer interessierten Zuhörerschaft im Designforum einen tiefen Einblick in die Materie.

Was trieb die Briten zum Brexit-Referendum, was treibt sie seither an? Auf Einladung der Initiative „Wir sind Europa“ boten zwei Insider jüngst im Designforum Dornbirn einen tiefen Einblick in dieses hochaktuelle Thema. Christian Kesberg, Wirtschaftsdelegierter in London, sagte einleitend, dass eine Gesellschaftskrise in Großbritannien, jener in Kontinentaleuropa nicht unähnlich, maßgeblich zum Brexit-Votum beigetragen habe. Da wie dort stehe den Gewinnern der Globalisierung die Fraktion der „Betrogenen und Vergessenen“ gegenüber – eine Fraktion, die am Tag der Abstimmung nicht nur gegen die Union, sondern auch gegen die herrschende Elite und gegen den Wertewandel gestimmt habe. „Für viele Briten“, erklärte Kesberg, „war dieses Referendum auch ein Referendum gegen Feminismus, gegen Liberalismus, gegen die multikulturelle Gesellschaft.“ Eine Infrastrukturkrise, Immigration, Populisten und der Boulevard, die Sehnsucht nach alter imperialer Größe, die massiven Probleme der EU und die Tatsache, dass die „Briten immer schon Rechenschieber- und nicht Herzenseuropäer“ waren, all das habe zusätzlich zum Ausgang beigetragen. „Take back control“ war das Zauberwort. Und das fiel auf fruchtbaren Boden.

Camerons Gelächter

Am 23. Juni 2016 stimmte eine Mehrheit von 51,9 Prozent für den Austritt. Zur Überraschung aller. Dabei hatte der damalige Premier David Cameron, Vater des Referendums, mit der Abstimmung ja nur die Kritiker in seiner Partei ruhig stellen wollen. Gregor Schusterschitz, als österreichischer Delegierter in die Brexit-Verhandlungen direkt involviert, schilderte eine bemerkenswerte Anekdote. Demnach hatte ein Mitarbeiter den Premier gefragt, ob man nicht auch Unterlagen für den Fall vorbereiten solle, dass die Bevölkerung für den Brexit stimme. Cameron soll in schallendes Gelächter ausgebrochen sein. Er hatte nicht mit diesem Ausgang gerechnet. Kaum jemand hatte mit diesem Ausgang gerechnet. Und deswegen hatte sich auch niemand überlegt, was ein Brexit denn überhaupt bedeuten würde. „Die Briten erklärten im Juni 2016, was sie nicht wollen“, sagte Kesberg, „aber sie hatten keine Ahnung, was sie wollen.“

Deshalb gibt es in Großbritannien für keine Variante des Brexits eine parlamentarische Mehrheit. Jeder will etwas anderes, Trennlinien laufen zwischen Links und Rechts und auch mitten durch die Parteien. Kesbergs Vergleich: „Eine Reisegruppe fährt in die Toskana. Ein Teil bleibt im Hotel, der Rest geht auf den Marktplatz – und dort will wieder jeder in eine andere Richtung.“ Zwei Jahre nach dem Referendum stünden die Briten, bildlich gesprochen, immer noch auf diesem Marktplatz: „Und unterhalten sich darüber, was sie eigentlich wollen und wohin sie gehen sollen.“ Soll heißen: Wie es weitergehen soll – das wissen die Briten selbst nicht. Immer noch nicht.

Die Zeit wird knapp

Dabei bleibt kaum noch Zeit, ein Austrittsabkommen auszuverhandeln und damit einen ungeregelten Brexit zu verhindern. Wesentliche Punkte sind ungeklärt, etwa die Fragen, wie künftig mit Nordirland umgegangen werden soll, welche Rolle der Europäische Gerichtshof in Großbritannien spielen soll – und ob die Briten einst gemeinsam beschlossene Maßnahmen finanziell auch weiterhin mittragen werden. Das Angebot der Union, sagte Schusterschitz, sei fair; die Briten aber hätten Vorschläge gemacht, die teilweise mit den EU-Grundprinzipien nicht vereinbar seien. Sich nur das Beste herauszunehmen, das werde nicht gehen: „Ein Nicht-Mitgliedstaat darf nicht mehr Rechte haben als ein Mitgliedstaat.“ Der britischen Premierministerin Theresa May habe man im Rahmen des EU-Gipfels in Salzburg deshalb das erste Mal zu verstehen gegeben: „Dass ihr euren Wählern ein Märchenreich versprochen habt, dafür können wir nichts, und wir sind nicht in der Lage, dieses Märchenreich zu verwirklichen.“ Zuletzt hieß es, es könne in Großbritannien noch zu Neuwahlen kommen. „Neuwahlen? Dann ist ein No-Deal-Brexit gewiss“, sagte Schusterschitz, „wie sollen die Briten dann noch zusammenbringen, was sie in zwei Jahren nicht zusammengebracht haben?“ Er glaube also, dass May es darauf anlege, zum letztmöglichen Zeitpunkt noch auf das EU-Modell einzugehen, um dann dem Parlament sagen zu können: „Wir brauchen jetzt die Zustimmung aller Parteien, um den No-Deal-Brexit zu verhindern.“

Wobei man laut Kesberg die Sache auch nicht überdramatisieren solle. Der Austritt der Briten sei unnötig, unerfreulich, teuer und schwierig – aber nicht die absolute Katastrophe. Vielmehr werde sich in ein paar Jahren ein Prozess der Normalisierung einstellen, „und vielleicht ist es auch ein Prozess der Reinigung, den beide Seiten gebraucht haben“. Klar ist allerdings, dass die Briten dafür einen hohen Preis zahlen werden; bei einem geordneten Abgang werde Großbritannien „um acht bis zehn Prozent“ weniger wachsen. Was ein ungeordneter Abgang bringen könne, wisse niemand. Nur: Besser wird’s nicht.

Michael Grahammer, Vizepräsident der Wirtschaftskammer Vorarlberg, sagte, er hoffe, dass Großbritannien zu einem Präzedenzfall werde, der potenzielle Nachahmer eines Besseren belehre. Der Austritt der Briten sei schlimm, keine Frage. „Aber der Exit eines Landes aus der Eurozone wäre eine absolute Katastrophe. Wir, die wir die Politiker wählen, müssen aufpassen, dass wir nicht Rattenfängern auf den Leim gehen.“ Denn übrig bleibt laut Kesberg „nur die Erkenntnis, dass der Brexit den Briten kein einziges Probleme löst“. All den populistischen Versprechungen zum Trotz.

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